Eine Betrachtung von Tom R. Schulz

Erinnerung geht ins Auge. In diesen Tagen, wo allerorten Jahresrückblicke abgehalten werden, wird unter den fünf Sinnen die Dominanz des Sehens, nun ja: offensichtlich. Alles, was wir in der Rückschau betrachten, was wir Revue passieren lassen, läuft über die Netzhaut, real oder imaginiert. Ein Bild, heißt es, sagt mehr als tausend Worte. Und es sind vor allem Bilder, die das Geschehen der Zeit im kollektiven Gedächtnis bewahren. Die übrigen Sinne scheinen mehr für die Gegenwart gemacht.

Wenn sie etwas speichern, halten sie eher eine Atmosphäre wach als einen präzisen Moment. Der Geruch der Berliner S-Bahn vor dem Fall der Mauer, der Geschmack von Karokaffee, der Klang der Sirenen bei Fliegeralarm: Bei manchen Menschen setzen sie Lawinen von Erinnerungen in Gang. Aber was da durchs Gehirn strömt, ist viel diffuser als das, was das Foto eines Flugzeugs auslöst, das sich in einen Wolkenkratzer bohrt.

Bilder verbinden. Obwohl oder gerade weil sie immer nur einen Ausschnitt zeigen, behaupten sie eine Faktizität, an der nur Konspirationstheoretiker zweifeln. So ist es gewesen, sagt das Bild - vor allem denen, die nicht dabei gewesen sind. Gerüche, Geschmäcker, Klänge, Berührungen dagegen müssen so oder ähnlich im eigenen Museum der Sinne vorhanden sein, sonst bleibt ihre Beschwörung abstrakt. Dafür machen Bilder träge. Sie verleiten dazu, das Leben durch die Betrachtung desselben zu ersetzen.