Rainald Grebe ist ein Seismograf der Republik. Der Liedermacher lästert über Wutbürger und Burn-out-Fälle. Er füllt die Hallen in Deutschland.

Die Augen des Liedermachers und Kabarettisten Rainald Grebe sind weit aufgerissen, wenn er auf der Bühne steht. Manchmal wirkt es so, als wollten sie über die Tasten seines Flügels ins Publikum springen. Grebe, das wissen die Zuschauer dann, wird keine Gnade kennen an diesem Abend.

Seine Augen sind noch ziemlich klein, er sieht müde aus, drei Stunden vor dem Auftritt. Grebe lümmelt sich auf das Sofa in einem scheußlichen Raum hinter der Bühne einer Mehrzweckhalle irgendwo in Deutschland, drückt die Zigarette in einem Pappbecher aus. "Ihr seid also extra aus Hamburg gekommen, um mich zu interviewen." Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage. Grebe weiß: 2011 war sein Jahr. So komisch das klingt.

Wenn Deutschland sein Lebensgefühl erklären müsste, es würde einfach die Lieder von Grebe singen. Grebe singt von Deutschlands ödesten Landstrichen, von den hippsten Großstadtbezirken. Von denen oben, den Heidi "Klumdidums" mit Personal Trainer im Aromabad. Viel singt er aber auch von denen, die unten sind, wie "Maik aus Cottbus" oder dem fetten Rolf, der "ein Kinn hat wie ein Sumoringerknie".

+++Rainald Grebe in Hamburg+++

2011 brachte Deutschland noch mehr Wutbürger, noch mehr Bionade-Biedermeier, 2011 war das Jahr der Hartz-IV-Aufstocker und der Burn-out-Patienten. Sie alle hat Grebe besungen. Nie nett, sondern immer spöttisch, stichelnd und so böse, wie es nur geht. Und trotzdem sitzen sie alle bei Grebe im Publikum. Oder gerade deshalb. Selbstgeißelung einer Wohlstandsgesellschaft. Sie funktioniert. Grebe ist im Sommer vor 15 000 Menschen auf der Berliner Waldbühne aufgetreten, sein Konzert im CCH im November war Wochen im Voraus ausverkauft. Grebe ist der Seismograf der Republik. Und er ist oben angekommen.

Auch darüber hat er ein Lied geschrieben. "Seit mein Geld für mich arbeitet, mach ich nur noch Sudokus. Arschbomben und Sudokus den ganzen Tag", singt er. Und: "Jetzt kniet irgendeine Olga über meinem Klo, kratzt meine Kacke weg. Es hat ein bisschen gedauert, aber mittlerweile, mittlerweile, schaue ich ihr gern dabei zu."

Grebe ist auch übellaunig und sarkastisch, aber nie prollig wie Mario Barth. Der "Spiegel" hat Grebe mal den "Dada-Rilke" genannt, da steckt beides drin: Provokation und Poesie. "Oben" hat Grebe das Lied über seinen Aufstieg genannt. Wer ihm zuhört, merkt auch, dass er sich im Wohlstand nicht einrichten will. Der Zweifel, das Hadern sind immer auch Stimme in Grebes Liedern.

Rainald Grebe, 40, wuchs bei Köln auf, in der Stadt Frechen, ausgerechnet. Nach dem Zivildienst ging er als Straßenkünstler nach Berlin. Und blieb dort. Er studierte Puppenspiel an der Ernst-Busch-Schule im Osten der Stadt. Heute lebt er in Pankow. Grebe schreibt Texte, die die einen zum Lachen bringen und die anderen zum Weinen. Er ist ein Moralist im positiven Sinne. Einer, der eine Grundgenervtheit an den Tag legt, weil er die Menschen liebt, aber verwundert darüber den Kopf schüttelt, wie sie sich abmühen, ein wunderbares Leben zu führen. In einem Song singt er über den Berliner Szene-Stadtteil Prenzlauer Berg: "Ja, sind denn alle abhängig hier, voll auf Litschi und Holunder? Vom Himmel fällt Holzspielzeug und ein Satz Faber-Castell. Die Menschen sehen alle gleich aus, irgendwie individuell." Er singt vom Bio-Feuerwerk und den Volvos vor der LPG. Das Lied könnte auch "Eimsbüttel" heißen. Oder "Ottensen".

Wer wie Grebe in einem Akademikerhaushalt aufwuchs, hat gute Chancen, dass er seinen Platz in der guten Gesellschaft findet. Grebe ist auf der Sonnenseite des Lebens, weil er uns so porträtiert, wie wir sind: ehrgeizig, immer darauf aus, das Beste herauszuholen, optimierungswütig. Und melancholisch, wenn wir es endlich geschafft haben. Oder merken, dass wir das so alles gar nicht gewollt haben. Der Rauch seiner Zigarette wabert durch das Kabuff. "Heute habe ich kein gutes Gefühl", sagt Grebe. Wenn es einen Tour-Blues gibt, dann hat ihn dieser Mann, der übernächtigt seinem Auftritt in der Arena entgegensieht, wo an anderen Abenden André Rieu und Matthias Reim spielen.

Plastikschalensitze glänzen auf der Tribüne. Sonst schlürfen hier Handball-Fans ihre Cola. "Und in dieser Halle muss ich jetzt ran", sagt Grebe. Und sieht aus, als müsste er gleich den Parteitag der Kommunisten in China bespaßen. Grebe schnappt einen Spruch des Fotografen auf: "Diese Stadt ist dann am schönsten, wenn man mit dem Rücken zu ihr steht." Das wird an diesem Abend seine Rache für die Schalensitze sein. Und sein Publikum wird da sitzen, mit Cola oder Bier, und herzlich darüber lachen. So funktioniert Grebe.

Neulich, erzählt er hinter der Bühne, habe er einen alten Bekannten aus der Kunstszene getroffen. Der kam gerade aus dem Supermarkt, sie gingen nebenan einen Kaffee trinken. Der Freund erzählte, er habe gar nichts eingekauft. Es ging ihm nur darum, die Nudelpreise zu vergleichen. Bei Lidl seien sie am billigsten. Der Freund ist arm, und Grebe ist mittlerweile wohlhabend. "Ich verdiene mehr, als ich ausgeben kann." Das klingt bei ihm eher nach Komplikationen bei einer Blinddarm-Operation. Nicht so sehr nach Stolz.

Die Bürde des Erfolgs, die Last, die der Ruhm mit sich bringt - in diesen Zusammenhängen steckt Grebe gerade. Und er findet seine eigenen Auswege: Grebe ist mit neun Musikern unterwegs, darunter Helmut, Ludwig, Horst und Erhard, das Streichquartett, vier Musiker um die 70 - auch sie stehen für Grebes Bruch mit den Zwängen der Glitzerwelt in Mehrzweckhallen. Kürzlich war er in Jena. Fünf Jahre lebte er dort und hat einst, in den 90er-Jahren, eine Inszenierung gemacht, "an dem Theater, vor dem die Neonazis aus Zwickau ein Jahr später eine Bombe ablegten", sagt er. Wer vor ein paar Wochen zu Grebes Konzert in Jena ging, erwartete viele böse Sätze über das braune Thüringen und das Neonazi-Trio. Grebe aber saß auf der Bühne, an seinem Piano, und sagte nur einen Satz zu der ganzen Sache: "Es ist nicht alles schlecht, was aus Jena kommt." Soll sich eben jeder selber denken, wie er das meint.

Seit mehr als einem Jahrzehnt tourt Grebe immer wieder durch die neuen Bundesländer. Er singt über den armen Osten und ist damit reich geworden. Grebe sucht gerade nach einem schönen Hof auf dem Land in Brandenburg, für sich, seine Freundin, vielleicht ein paar Freunde. Was sagt er zur Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds"? "Hm, hm", murmelt Grebe, "ob ich dazu etwas sagen kann?" Jetzt wollen sie auch noch über aktuelle Politik reden, die Reporter aus Hamburg. Denkt Grebe, denkt man selbst. Grebe als Erklärbär, als Peter Scholl-Latour für die Krisenregionen Jena und Zwickau? Es dauert ein paar Augenblicke, bis das fragende Grinsen aus seinem Gesicht verschwindet. "Ich kenne vor allem den guten Osten", sagt er.

Freunde von ihm aus Jena oder Dresden haben ihm erzählt, dass die Nazis schon länger aus den Straßen verdrängt worden seien. Schläger mit Glatzen sehe man kaum noch in Stendal oder Kahla. "Aber vielleicht ist genau das gefährlich." Nazis in Nadelstreifen.

Er amüsiert sich bisweilen über die Feuilleton-Sätze, die sein Tun beschreiben wollen. Grebe ist ein Zettelwirtschafter: In seiner Wohnung in Pankow liegen ziemlich viele Notizen ziemlich verstreut herum. Er schreibt auf, was ihm in den Sinn kommt, und aus diesen Realitätspartikeln setzt er seine Lieder zusammen. Sie klingen nie nach Wahlkampf, sie sind aber immer politisch.

Im Sommer allerdings hat Grebe in Berlin eine Revue nur zum Wahlkampf gemacht, sie hieß "Völker, schaut auf diese Stadt" . Grebe recherchierte, traf Bezirksbürgermeister und Bürgerinitiativen. In Berlin regen sie sich gerade darüber auf, dass demnächst zu viele Flugzeuge über die Stadt fliegen. Und dass eine Straße, die Kastanienallee heißt und auch von Touristen gerne angesteuert wird, derzeit eine riesige Baustelle ist. "Irgendwo müssen die Flugzeuge ja fliegen", sagt Grebe, "und meine Wut reicht nun einmal nicht bis zur Kastanienallee". Er kommt auch deshalb so gut an, weil er sieht, dass nicht nur Politiker Mist machen, sondern dass auch die ganze Wutbürgerei sehr egoistisch sein kann. Bei den Protesten, sagt Grebe, gehe es doch oft um Nickligkeiten, den Streit unter Nachbarn.

Grebe hat, wie jeder gute Beobachter unserer Zeitläufte, eine Aversion gegen einfache Erklärungen. Seine Texte sind keine Pauschalurteile. Früher, sagt er, sei politisches Kabarett leichter gewesen. Strauß und Kohl als Gegner - da hatten die Wortgewaltigen auf der Bühne leichtes Spiel. Liedermacher wie Wolf Biermann oder Hannes Wader ließen sich leicht einreihen in die Fronten des Kalten Krieges, sie ließen keine Widersprüche zu. Grebes Kunst lebt von den Widersprüchen. Er ist nicht der Künstler der Mitte, aber er hängt irgendwie immer dazwischen. Grebe ist ein Liedermacher des Vielleichts.

Grebe mag die am liebsten, die mit ihrem Kabarett die Welt nicht ordnen wollen. "Es gibt niemanden, der eine Meinung vertritt, bei der ich sage: Ja, das steht stabil in der Landschaft. Für die meisten ist es nicht leicht, das Chaos zu akzeptieren." Schlechtes Kabarett, das sei das, das die Welt nach dem Geschmack des Studienrats sortiert. Grebe sitzt mittlerweile aufrecht auf dem Sofa im Kabuff und sagt: "Jetzt sind diese ganzen jungen Sänger mit Gitarre und Rauschebart erfolgreich. Das ist auch die Sehnsucht der Menschen nach einer geordneten Welt."

Und es gebe eine große Sehnsucht nach Ernst, sagt Grebe. Auf der Bühne beantwortet er diese Sehnsucht mit der größtmöglichen Provokation, dem größtmöglichen Unernst. Bei seinen Auftritten verkleidet er sich, als Indianer, als Diktator oder mit einem regenjackengelben Frack, er albert die erste halbe Stunde nur rum, erzählt Witze und spielt kurz ein paar Blödellieder an. So eines zum Beispiel: "Meine Freundin ist trocken wie Knäcke, es gibt bessere an jeder Ecke. Warum halte ich es trotzdem mit ihr aus? Ich heiße Klaus. Und seh auch nicht besser aus." Auch so funktioniert Rainald Grebe.