Niemand gibt gerne zu, dass hochgeschätzte Kunst für ihn Schund ist. Unsere Kritiker schreiben trotzdem, was sie bisher nur zu denken wagten.

Zugegeben: Wir hätten auch etwas Vernünftiges lernen können. Nun sind wir aber Kulturjournalisten geworden - einer muss den Job ja machen. Dabei hat manch einer sehr unschöne Erfahrungen auf Konzerten, im Theater, Museum oder bei der Lektüre gemacht. Und fürchtet sich davor, ein bestimmtes Werk nochmals zu hören oder zu sehen. Nie wieder, denkt man dann als Kritiker, hoffentlich muss ich das nie wieder rezensieren. Denn im Laufe eines Berufslebens entwickeln sich Vorlieben und Abneigungen mit gleicher Geschwindigkeit. Niemand gibt gern offen zu, dass hoch geschätzte Kunstwerke für ihn Schund sind. Wir haben uns trotzdem mal getraut. Anbei eine Liste, zusammengestellt von Kollegen, die manch Meisterwerk zukünftig liebend gern missen möchten.

Büchners "Woyzeck"

Als "schönstes Erlebnis der Literatur" gilt Büchners "Woyzeck", sein Dramenfragment über die geschundene Kreatur. Dieses Erlebnis entzieht sich mir. Zu viele schreckliche Aufführungen habe ich gesehen. 2005 war der Tiefpunkt. Da inszenierte Laurent Chétouane am Schauspielhaus einen drei Stunden lang stotternden Woyzeck auf einer Bühne aus acht Brettern, gegen die das Bäumchen aus Becketts "Warten auf Godot" wie Illyrien anmutet. Ende der 90er-Jahre hatte Franz-Xaver Kroetz an diesem Theater "Woyzeck" auf dem Rummelplatz gezeigt, von dem hauptsächlich der stundenlang am Bühnenrand onanierende Zwerg im Gedächtnis geblieben ist. Woyzeck ist das duldige Opfer der Gesellschaft. Das hat Büchner 1836 geschrieben, und bis heute begegnen uns in deutschen Filmen und deutscher Literatur hauptsächlich geknechtete Helden: Alkoholiker, Vorbestrafte, Verlassene, Kaputte. Schade. Wer so eine Biografie nicht vorzuweisen hat, dem geht's schwer in der Literatur. "Jeder Mensch ist ein Abgrund" heißt es im "Woyzeck" oder "ich glaub, wenn Unsereins in den Himmel käme, müssten wir donnern helfen" oder, noch schlimmer, wenn ihn der Hauptmann, der ein Ernährungsexperiment mit ihm startet, immerfort fragt: "Hat er wieder seine Hülsenfrüchte nicht gegessen?" "Doch, hat er", möchte man antworten, "und zwar so sehr, dass es zu den Ohren wieder rauskommt." Hat er keine anderen Stücke geschrieben? "Leonce und Lena" und ihre Reiche Pipi und Popo nerven mich ebenfalls. Abgrundtief. Ich glaub, wenn Unsereins in den Intendantenhimmel käme, würden wir streichen helfen.

Armgard Seegers ist Theater- und Literaturkritikerin.

Ernst Barlachs Engel

Ernst Barlach ist ein großer Künstler, aber nicht jedes große Kunstwerk muss man lieben. Ich gestehe, dass ich manche Barlach-Skulpturen einfach nicht mag. Wie er die Vereinfachung der menschlichen Figur auf ihre Grundformen vorantrieb, fand ich schon immer unangenehm. Mit der Entindividualisierung und Monumentalisierung seiner Figuren konnte ich nie etwas anfangen. Vielleicht liegt das an meiner frühkindlichen Barlach-Schädigung: Meine Mutter hat in der Karwoche stets einen schwarz-weißen Kunstdruck des "Schwebenden" aus dem Güstrower Dom ins Wohnzimmer gehängt.

Ich hatte schlicht Angst vor diesem schildkrötenhaften Gesicht, das mich bis in meine Träume verfolgte, es wurde zum Gespenst meiner Kindheit. Als Erwachsener erkannte ich, dass Barlach ein großer Künstler war, dessen Werke die Nazis als "entartet" bezeichnet hatten. Doch auch dass der "Schwebende" die Gesichtszüge der sympathischen Künstlerin Käthe Kollwitz trägt, machte ihn mir nicht angenehmer. So ist das eben.

Matthias Gretzschel ist Autor.

"Deutsches Requiem"

Johannes Brahms, einer der wenigen weltbekannten Hamburger, ist klassisches Lokalheiligtum, ist eine Gottesgabe. Ein Genie. Aber bekanntlich sind auch die nicht immer perfekt. Und deswegen: Warum bloß hat er viele seiner ehrgeizigen Jugendwerke vernichtet, die mich viel mehr interessieren würden, aber nicht dieses transusige, tränenschwere und im schlimmsten Sinne des Wortes sterbenslangweilige "Deutsche Requiem"?

"Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" müsste, wenn es nach mir ginge, eigentlich doch "Denn alles hier, es ist nur Stroh" heißen. Ich kann dem larmoyanten Tonfall nichts abgewinnen, mir gehen die Chorsätze nicht ans Gemüt, sondern nur auf die Nerven. Mein Problem, schon klar, für Musikkritiker ist das Berufsleben nur in seltenen Fällen ein Wunschkonzert. Natürlich ist die Faktur zu loben, handwerklich gibt's da gar nichts zu meckern. Aber dennoch: Sobald dieses ganz spezielle Stück meinen Dienstweg zu kreuzen droht, biege ich ganz schnell links oder rechts ab. Ist so. Kann ich nicht ändern - und will ich auch gar nicht. Niemand ist perfekt.

Joachim Mischke ist Chefreporter Kultur.

"Star Wars"

13 Stunden und ein paar Minuten. So viel Lebenszeit muss investieren, wer sämtliche "Star Wars"-Teile durchhalten will. Wobei es mit Aussitzen allein nicht getan ist, hinzu kommt der harte Kampf gegen den Sekundenschlaf, wenn wieder einmal irgendwelche Klonkrieger hin- und herdüsen, C3PO auf furchtsamen Naivling macht oder Meister Yoda grammatikalisch diskussionswürdige Kalendersprüche vom Stapel lässt. Die Handlung? Nicht der Rede wert. Also einfach nicht gucken? Im Prinzip eine gute Idee, aber unmöglich mit Halbwüchsigen im Haus, denen jeder der sechs "Star Wars"-Teile das Maß aller Kinodinge ist und die sogar jede Sekunde der unüberschaubaren Bonusmaterialmengen auf der teuren Blu-ray-Komplettbox begierig einsaugen. Apropos teuer: Sehr nervig auch das Kinderzimmer verstopfende Merchandising inklusive Sammelkarten, Plastik-Laserschwert und Darth-Vader-Maske. Allesamt Taschengeldräuber mit extrem kurzer Halbwertszeit. Anderseits gibt es Schlimmeres als sechs "Star Wars"-Teile. Die Schreckensvision eines siebten nämlich.

Holger True ist Musik- und Filmkritiker.

Das "Weiße Album"

Laut Beatles-Produzent George Martin halten viele Kritiker "The Beatles", also das "Weiße Album", für das Beste der Fab Four. Ich finde: Es ist als Gesamtwerk ihr schlechtestes. Denn auf dem Doppelbrocken von 1968 klingen die Beatles eben wie eine Band im Zerfall, die ihren toten Manager betrauert und ihr Glück in Indien oder in den Armen von Yoko Ono sucht. Auflösungserscheinungen zwischen Musikern und Crew, monatelanges Wurschteln und zahlreiche Alleingänge prägen die Aufnahmesessions. Natürlich gibt es unter den 30 Songs durchaus Lichtblicke, "Yer Blues", "Blackbird" oder "Helter Skelter" zum Beispiel.

Aber es musste ja unbedingt ein Doppelalbum sein (Cover-Designer Richard Hamilton hat sich sichtbar viel Mühe gegeben), und so tummeln sich fröhlich Totalausfälle im Überschuss. Kinderlied-Alarm mit "Ob-La-Di, Ob-La-Da", Drogen- und Avantgarde-Irrsinn Marke "Revolution 9", "Piggies", "The Continuing Story Of Bungalow Bill" oder "Wild Honey Pie", den Ringo-Country-Knödel "Don't Pass Me By" oder das wahrlich verschnarchte Schlaflied "Good Night". O Mann, "I'm So Tired". Qualitätskontrolle: abwesend. Da wäre weniger wirklich mal mehr gewesen. Wie sagte es Ringo Starr mal in einem Interview? "Wir hätten zwei Alben machen sollen, ein weißes und noch ein weißeres."

Tino Lange ist Popkritiker.

Bizets "Carmen"

"Auf in den Kampf", der geschmetterte Triumphgesang des Toreadors Escamillo aus der Oper "Carmen" ist eine wahre Ohrenplage. Wie das ganze zu Tode inszenierte Bizet-Opus mit Kastagnetten-Geklapper und Manzanilla-Geträller. Purer Spanienkitsch. Populär auch wegen des Männerklischees vom "Rasseweib" im Rüschenrock. Falsche Exotik und Folklore.

Um beim "original Spanisch" zu bleiben: Manzanilla bedeutet auch Kamillentee. Klar, dass einem trotz Ballettmusik und Absatzknallen bei "Carmen" die Füße einschlafen. Vermutlich rührt meine Allergie aus jungen Jahren. Ist dem Statistentrauma des Gymnasiasten in der Grazer Oper zu verdanken. Eingeschnürt in Glitzerjacke und Kniehosen, bunte Bänder schwenkend, musste man im Takt über die Bühne marschieren und begeistert Escamillo zujubeln. Abend für Abend "auf in den Kampf". Nicht zu reden von anderen sirupsüßen Aufgüssen der "Carmen"-Schlager, etwa die Suite des Russen Rodion Schtschedrin. Musikmelodrama zum Quadrat. Erklingt in der U-Bahn der Torero-Marsch als Klingelton, kann mein Kampfruf deshalb nur lauten: "Ohren zu!"

Klaus Witzeling betreut beim Abendblatt die Bereiche Theater, Tanz, Musical und Kabarett.