Der Heimkehrer-Effekt oder die Rituale zu Weihnachten.

Dominosteine gehören dazu. Und die Weihnachtsgans. Und Punsch mit einem großen Schuss Rum. Über den Tannenbaum denkt auch niemand ernstlich nach. Hübsch geschmückt symbolisieren Nordmanntanne oder Blaufichte, im Sachsenwald unter Glühwein-Einfluss selbst geschlagen, Weihnachten, dieses Fest der Bräuche und der lieben Gewohnheiten. Sie sind so fest in uns verankert, dass wir uns in den letzten Tagen des Dezembers geradezu zwanghaft verhalten. "Same procedure as last year? Same procedure as every year!", um den berühmten Silvestersketch zu zitieren. In Ritualen gefangen sind selbst jene, die schon lange den Kirchgang nicht nur Heiligabend verweigern: wenn sie nämlich am 24. Dezember am späteren Abend in die Klubs und Kneipen auf den Kiez ziehen, um der heimelnden und friedvollen "Wir haben uns alle lieb"-Atmosphäre zu entgegen und zu zechen, als wäre es ein stinknormaler Donnerstag im trüben November.

Weihnachten ist auch das Fest der Heimkehr. All diejenigen, die es aus der Hansestadt in andere Gegenden verschlagen hat, kommen über die Feiertage zurück, um Freunde und Familie zu treffen. Genauso wie die Zugezogenen die lieb gewonnene Stadt an der Elbe für ein paar Tage in Richtung Aschaffenburg oder Sindelfingen verlassen. Weihnachten zieht es die Menschen an die Orte ihrer Kindheit und Jugend zurück, es ist ein nostalgisches Zurück zu den eigenen Wurzeln.

Wenn man zum Beispiel Bergedorfer Abiturienten der Jahrgänge 1995 bis 2011 befragt, wo sie am späten Abend noch hingehen, wird die Antwort lauten: "In die Lola." Das ganze Jahr über setzt kaum jemand von ihnen einen Fuß in das Stadtteilzentrum an der Lohbrügger Landstraße, weil man cool in Ottensen, auf dem Kiez oder in der Schanze oder außerhalb der Stadt wohnt, aber Weihnachten sind alle Gesetze der Coolness außer Kraft gesetzt. Man geht dorthin, weil das schon seit Generationen der Weihnachtstreffpunkt im Hamburger Osten ist. Rütteln würde niemand an dieser Gewohnheit. Ist eben so.

Auch andere Klubs profitieren Weihnachten und an den Tagen danach von diesem Heimkehrer-Effekt. Die beliebtesten Treffs sind das Knust und die Fabrik. Ebenso sicher wie der Liederkanon im Weihnachtsgottesdienst läuft das Programm in den Liveklubs ab - und das seit Jahren mit höchstens marginalen Abweichungen. Reggae mit Jamaica Papa Curvin zum Beispiel gibt es gefühlt seit Dekaden zu Heiligabend, früher in der Markthalle, jetzt in der Fabrik. Die Beatles Revival Band, die Ska-Truppe The Busters und Hannes Bauer's Orchester Gnadenlos sind dort in Ottensen im späten Dezember fester Bestandteil. Nur Ian Cussick, die schottische Rockröhre, ist in diesem Jahr nicht dabei. Für ihn springt Lake ein, eine Hamburger Rockband, die Cussick schon oft als Sänger verstärkt hat. Im Knust klettert Dauergast Bernd Begemann zwischen den Feiertagen ebenso auf die Bühne wie die Musiker der Punkband The Razors.

Die Musik steht bei diesen Konzerten nicht zwangsläufig im Mittelpunkt. Mancher Gast würde sich vielleicht wünschen, dass die Bands etwas weniger laut spielen würden, weil er dann nicht so laut in das Ohr eines Freundes schreien müsste, den er exakt ein Jahr lang nicht gesehen hat. Musikalische Überraschungen möchte man erst recht nicht erleben. "Same procedure as last year" ist wichtig, der Musikhörer wird Weihnachten zum Gewohnheitstier. Dass die Klubs alle rappelvoll sind, versteht sich fast von selbst. Ein Konzert mit Hannes Bauer im Mai? Da wäre in der Fabrik wohl Möbelausstellung, denn: falscher Monat.

Jamaica Papa Curvin Sa 24.12., 22.00, Fabrik (S Altona), Barnerstraße 36, Karten 21,50; Internet: www.papacurvin.pa.funpic.de