Julian Barnes hat mit seinem preisgekrönten Roman “Vom Ende einer Geschichte“ ein großartiges Buch über das Erinnern geschrieben.

Hamburg. Haben wir nicht alle die Erfahrung gemacht, dass Erinnerungen sehr subjektiv geprägt sind? Dass man sich seine Vergangenheit zurechtschneidert, sie verzerrt, sich Ereignisse schönredet und so ein Selbst erschafft, mit dem man leben kann? "Am Ende ist das, was man in Erinnerung behält, nicht immer dasselbe wie das, was man beobachtet hat", schreibt Julian Barnes in seinem neuen Roman "Vom Ende einer Geschichte". Und intoniert damit sein Thema: Man sieht nur, was man sehen will oder was zu dem Bild passt, das man von sich selbst hat.

In Barnes' Roman geht es um vier Jugendliche, die sich während der Schulzeit anfreunden. Drei sind bereits Freunde, ein vierter, Adrian, kommt hinzu. Er ist klüger als die anderen, macht sich mehr Gedanken. Besucht dann als Einziger eine renommierte Universität. Und im Alter erinnert sich einer der Freunde, Tony, an das, was war. Vor allem daran, dass Tonys erste Freundin Veronica die Freundin von Adrian wurde. Und dass er Adrian daraufhin schrieb: "Gratulation".

Dass alles Wissen relativ ist und die Wahrheit flüchtig, dass jede Erinnerung persönlich interpretiert wird, damit hat uns der britische Autor Barnes gelegentlich konfrontiert. In "Liebe usw." beispielsweise erzählte jede der handelnden Personen eine Beziehungsgeschichte aus ihrer Perspektive, in "Flauberts Papagei" behaupteten mehrere Museen, sie seien im Besitz des Dichter-Vogels. 19 Bücher hat Julian Barnes bisher geschrieben, fast immer sind sie wunderbar lesbar, unterhaltsam und ein intellektuelles Vergnügen.

Barnes' neues Buch hat nun die Selbstzensur von Erinnerungen zum Thema. Denn woran erinnert man sich? An Gefühle? Doch die ändern sich. An Bilder? Gedanken? All das ist nicht zuverlässig. "Je länger das Leben dauert, desto weniger Menschen gibt es, die unsere Darstellung infrage stellen, uns daran erinnern können, dass unser Leben nicht unser Leben ist, sondern nur die Geschichte, die wir über unser Leben erzählt haben", sagt die Hauptfigur Tony Webster, ein kahlköpfiger Rentner Mitte 60, der dabei ist, sich seine Vergangenheit neu zusammenzustellen. Und der zunächst eine sehr positive Bilanz seines Lebens zieht.

Das Buch ist eine elegante Selbstbefragung zum Thema, was wir über uns wissen. Und ob wir ehrlich mit uns sind, wenn wir sagen, wir hätten ein gutes Leben geführt, weil wir geheiratet, gearbeitet und ein Kind groß gezogen haben. Entwickelt sich ein Charakter im Laufe der Zeit oder ist er von Anfang an gleich? Ist es wichtiger, in seinem Leben Klarheit und Regelmäßigkeit zu schaffen - auch um den Preis alles dafür aufgeben zu müssen -, als sich ständig darüber zu befragen, welche menschlichen Belange logisch sind und für wen und was man Verantwortung übernehmen muss? Oder genügt es, sein Leben pflichtbewusst und anständig zu führen? All diese Fragen wirft Barnes im Laufe seines 180-Seiten-Romans auf. Man liest zunächst über sie hinweg. Und dann fesseln sie einen, tagelang. In einer ganz alltäglichen Situation überfallen sie einen wieder.

In seiner in diesem Jahr mit dem Booker Prize - dem wichtigsten englischsprachigen Literaturpreis, ausgezeichneten Geschichte - fügt Barnes die philosophisch um seine Erinnerungen kreisenden Gedanken seines Erzählers Tony Webster zu einer spannenden Detektiv-Story zusammen. Tony, ein Kulturbeamter, der jetzt pensioniert und geschieden, aber mit seiner Ex-Frau noch befreundet ist, den Freundschaft auch mit seiner Tochter und seinen beiden Enkeln verbindet, erbt eines Tages von der verstorbenen Mutter seiner Ex-Freundin Veronica 500 Pfund und das Tagebuch seines Freundes Adrian.

Mit Veronica und Tony lief es nicht gut. Und mit Adrian, der als philosophischer Kopf unter den Freunden galt, der Elitestudent in Cambridge war, und Veronica funktionierte es auch nicht. Adrian hat sich das Leben genommen, aus "moralischer und menschlicher Pflicht", wie es in seinem Abschiedsbrief heißt. Wie kam es dazu? Und was hat Veronica mit dem Selbstmord von Adrian zu tun? Tonys Mutter fragt ihn: "Glaubst du, das kommt daher, weil er zu intelligent war?" Julian Barnes umkreist eine unerhörte Verstrickung.

Wir als Leser wollen dann nicht nur wissen, wie Tony Webster seine Vergangenheit beschönigt hat. Wir wollen herausfinden, was wirklich vor 40 Jahren, in Websters Schul- und Studienzeit passiert ist. Wir wollen auch verstehen, warum er was tat, tun musste. Tony beginnt mit seiner ehemaligen Freundin einen E-Mail-Austausch über das Tagebuch, denn Veronica will es nicht hergeben. Tony ist höflich, zurückhaltend, freundlich, in anderen Worten: verlogen. Veronica will nichts von ihm wissen, meidet ihn, antwortet selten. Und wenn, dann knapp. Beide sehen sich wieder. Alles wird nur schlimmer.

Tony reflektiert sein Leben mit Frau, Tochter, kleinem Haus. "Ich pendelte jeden Tag nach London. Aus meiner Ausbildung wurde eine lange Karriere. Das Leben verging. Irgend ein Engländer hat mal gesagt, die Ehe sei eine lange, fade Mahlzeit, bei der der Nachtisch zuerst serviert wird. Ich finde das viel zu zynisch. Ich hatte viel Freude an meiner Ehe, aber vielleicht war ich ruhiger, als es für mich gut war." Und später bestätigt er sich selbst: "Jetzt bin ich im Ruhestand. Ich habe meine Wohnung und alles, was ich brauche." Richtig ist, dass er eine Wohnung hat. Ob er Ruhe hat und das, was er braucht, können wir, bei diesem Katz-und-Maus-Spiel, das der Autor höchst spannend mit uns treibt, nur vermuten.

Am Ende wird Tony mit einer Wahrheit konfrontiert, die nicht verraten werden soll, weil sie das Lesevergnügen mindern würde. Die aber die Leser in neue Verwirrungen stürzen kann. Barnes' Buch ist ein Meisterwerk. Man merkt es anfangs nicht. Doch am Ende weiß man, dass es uns etwas erzählt, was wir alle wissen, aber selten zugeben: Wenn wir unser Leben erzählen, lassen wir die unschönen Dinge gerne aus. Und nach einer gewissen Zeit haben wir sie auch vergessen. Wenn man älter geworden ist, so sagt es Tony oder besser Barnes, gibt es weniger Bestätigung für das, was wir sind. Weniger Sicherheit darüber, wer man ist oder war. Dafür haben wir dann zum Glück noch die Literatur.

Julian Barnes: "Vom Ende einer Geschichte", deutsch v. Gertraude Krueger, Kiepenheuer & Witsch, 181 Seiten, 18,99 Euro