Das Ensemble Kaleidoskop trifft mit Into The Dark ins Schwarze

Hamburg. Augen auf, Augen zu - kein Unterschied. Ich starre auf meine Hände vorm Gesicht und sehe nicht den leisesten Unterschied zur umgebenden Schwärze. Nirgends kommt in diesem großen, hohen Raum auch nur ein Fitzelchen Licht durch. Das selbst gewählte Schicksal temporärer Totalfinsternis teile ich mit knapp 50 Zuschauern. Mehr als in jeder anderen Konzertsituation werden wir hier, auf der mit einem Vorhang vom Zuschauerraum abgeteilten Bühne der K6 von Kampnagel, zu absoluten Zuhörern. Außerdem im Darkroom auf Zeit: zehn Musiker des Berliner Ensembles Kaleidoskop, das ungeachtet seines visuelle Vielfalt verheißenden Namens in völliger Dunkelheit für uns musiziert, ein Security-Mann mit Infrarotkamera und zwei blinde Lotsen, die Besucher im Falle eines Unwohlseins hinausgeleiten.

"Into The Dark" heißt die 75-minütige Performance, die die Berliner Musiktheater-Regisseurin Sabrina Hölzer ersann und die in noch zwei weiteren ausverkauften Vorstellungen heute und morgen dem Publikum auf Einladung der Elbphilharmonie Konzerte ein Hörerlebnis der existenziellen Art beschert.

Wir liegen auf speziell angefertigten und wie ein ordentliches deutsches Gräberfeld angeordneten hölzernen Bettstätten. Die Liegeflächen sind mit Akustik-Schaumstoffmatten belegt, die es im Fachhandel für Studioeinrichtungen zu kaufen gibt. Bevor das Konzert beginnt, kann der Mensch also noch registrieren, dass er nach dem Runtergedimmtwerden des funzligen Deckenlichts zu einem Teil des Raums werden wird, zu einem physikalischen Körper, der Schall reflektiert und absorbiert. Reflektieren und Absorbieren - ist es nicht das, was in einem normalen Konzert das Gehirn mit der Musik auch tut? Hier ist es ähnlich - und doch ganz anders. Im Verlauf des Ereignisses erklingt mit Ausnahme eines späten Mozart-Streichquartettsatzes nur Neue Musik, von John Cage und Morton Feldman bis zu György Kurtág, James Tenney und Salvatore Sciarrino.

Nicht gerade die Top Ten der Klassik. Trotz der sperrigen, filigranen Klänge fordert der Biorhythmus schnell und unnachgiebig seinen Tribut. Liegen plus Finsternis ist gleich Schlafenwollen. Weil sich die flirrenden, schabenden, raschelnden Klänge der Streicher, die nach geheimnisvoll erscheinenden, dabei rein musikalischen Gesetzmäßigkeiten den Raum von wechselnden Orten aus beschallen, aber kaum als akustische Kuscheldecke eignen, hört man nur ganz vereinzelt den tiefen, gleichmäßigen Atem Eingeschlafener. Wir versinken vielmehr gemeinsam in einen vollkommen individuellen, ja, isolierten Zustand zwischen Traum und Wachen, in dem das analytische Hören zugleich besser wird und bedeutungslos.

Das Wagnerwort "Zum Raum wird hier die Zeit" erfährt bei "Into The Dark" eine neue Bedeutungsebene. Wo es nur noch Klang gibt und Raum, verliert die Zeit ihre Macht, der Mensch orientiert sich neu. Nie, berichtet Sabrina Hölzer, habe jemand rückgemeldet, dass ihm oder ihr die Zeit in dieser musikalischen Dunkelkammer lang geworden sei. Allen vergeht sie wie im Flug.

Wie Engel, allem Menschlichen scheinbar enthoben, kreuzen die allzeit unsichtbaren Musiker in Socken auf ihren mit den Füßen zu ertastenden Bahnen den Raum und spielen. Dem fahlen Applaus am Ende bleiben sie fern - er gilt beinahe Gespenstern.