Die schwedische Autorin Kerstin Ekman schreibt mit “Tagebuch eines Mörders“ einen aufwühlenden Roman

Es scheint, als habe Kerstin Ekman ihren Ich-Erzähler erfunden, um ein Werk des schwedischen Schriftstellers Hjalmar Söderberg (1869-1941) in Erinnerung zu rufen. Daher soll, bevor wir uns ihrem Buch zuwenden, etwas über den Roman "Doktor Glas" von Söderberg gesagt werden.

Als er im Jahre 1905 erschien, löste die Geschichte um einen Arzt, der einen Mord begeht, einen Skandal aus. Man warf dem Autor vor, Abtreibung und Euthanasie zu propagieren sowie Mord zu entschuldigen. Noch in den 80er-Jahren wurde der Roman in Schweden in einer Literatursendung als unmoralisch eingestuft. Zwar gab es Übersetzungen und zwei Verfilmungen, doch echte Würdigung fand er erst spät, nicht zuletzt durch Kerstin Ekman. Aber auch durch die kanadische Autorin Margaret Atwood, die insbesondere die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms (der Ich-Erzähler ist wie im Ekman-Roman Tagebuchschreiber) und die ins Surrealistische weisenden Bilder hervorhebt sowie die kühne Freiheit des Denkens Hjalmar Söderbergs.

Natürlich wünscht man schon zu Beginn der Lektüre von Kerstin Ekmans Roman, auch das Buch von Söderberg zu lesen, das man zurzeit aber - vom schwedischen Original abgesehen - nur in englischer Übersetzung erhält.

Kerstin Ekman, eine der angesehensten schwedischen Autorinnen, lässt ihren Protagonisten Pontus Revinge ähnlich agieren wie Söderberg den Doktor Glas, und doch erzählt sie ihre ganz eigene Geschichte. Sie tut das kühl, mit distanziertem Blick - immer aus der Perspektive des Ich-Erzählers und Tagebuchschreibers, was dem inneren Monolog entspricht, wodurch der Text in der Schwebe bleibt.

Wie gut sie ihr Handwerk beherrscht, zeigt sich darin, dass der Leser von Mitgefühl geradezu überwältigt wird. Und das, obwohl Pontus Revinge keineswegs ein sympathischer Mensch ist. Wir haben es mit einem spröden, mit einem hoffnungslosen Mann zu tun, der unter beklemmenden Umständen herangewachsen ist. Der Vater wegen Betrugs im Gefängnis, die Mutter schläft mit dem Großhändler Schöler, der ihr verspricht, für den Unterhalt und das Medizinstudium des Sohnes aufzukommen.

Seinen Weg macht Revinge dann doch, wird Arzt und hat kaum das Nötigste zum Leben, denn der Großhändler hat die Mutter stets Schuldscheine unterschreiben lassen, die er zurückzahlen muss.

Seine Tätigkeit als schlecht bezahlter Amtsarzt in Stockholm bessert er durch Untersuchungen von Prostituierten auf, für die ihn die Betreiberin eines Bordells recht ordentlich entlohnt. Nicht zuletzt hat seine Tätigkeit damit zu tun, dass er so gut wie keinen Geschlechtstrieb verspürt. Einmal heißt es: "Ich bin in eine Frau nie anders als mit Spekulum und Sonde eingedrungen. Und ich habe es von Anfang an mit nervöser Feinfühligkeit getan." Ein keusch Liebender, der das zauberhafte Mädchen Frieda schützen möchte. Seine Verhältnisse bessern sich, als er in die Praxis eines Kollegen einsteigt und in dessen Haus familiären Anschluss findet.

Kerstin Ekman nimmt den philosophischen Faden der Schuldfrage aus Hjalmar Söderbergs Roman auf und spinnt ihn weiter. Denn es liegt ihr nicht nur der Roman Söderbergs am Herzen, sondern auch die Fragen, welche er aufwirft. Ihr Protagonist findet seinen Platz im Leben nicht, leidet an sich und der Zeit. Es sind die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts, eine Umbruchszeit, der die alte Ordnung zunächst widersteht. Bald kommt der Krieg, danach wütet die sogenannte Spanische Grippe, und nichts scheint mehr zu sein, wie es einmal war.

Kerstin Ekman lässt ihren Helden auf den Schriftsteller Hjalmar Söderberg treffen, eine Sternstunde für jenen. Etwas passiert in seinem Leben. Der bewunderte und beneidete Autor wird ihm von einem Freund vorgestellt. Eine flüchtige Begegnung, mehr nicht. Doch kann er nicht vergessen, was Söderberg bei der Vorstellung zu ihm sagte: Ein Medizinstudent! Die gehen doch mit Zyankali in der Tasche herum, wobei jener Strindberg zitierte.

Und hier beginnt vielleicht schon Revinges Wahn. Er sucht geradezu verzweifelt den Kontakt zum Dichter, der den armen Schlucker kaum wahrnimmt. Doch ergibt sich eine weitere Begegnung, in der Revinge Söderberg in das Geheimnis seines kleinen Döschens einweiht. Es enthält Giftkügelchen, deren Wirkung er beschreibt und mit denen sich unauffällig töten lässt. Eine Replik auf den Zyankali-Spruch, der ihn damals kränkte. Der Schrecken, den er dem Autor einflößt, weckt in ihm euphorische Gefühle, verleiht ihm ein Gefühl der Macht. Wenige Jahre später erscheint der Roman "Doktor Glas". Pontus Revinge empfindet tiefe Befriedigung, sieht sich als Impulsgeber der Geschichte und als Protagonisten. Rauschhafte Begeisterung füllt ihn aus.

Bald danach wird er einen Menschen töten, nicht geplant, aber mit blitzartig hervorbrechender Entschlossenheit.

Kerstin Ekman hat ein aufwühlendes Buch geschrieben, in dem es um einen Mörder geht, der kein charakterloser Mensch ist und doch in einem Augenblick eine monströse Tat begeht. Schuld weist er in seinen Aufzeichnungen weit von sich, wird aber der Angst und eines tiefen Unwohlseins, die ihn immer stärker bedrängen und weiteres Unheil hervorbringen, nicht Herr.

Kerstin Ekman: "Tagebuch eines Mörders". Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder. Piper Verlag, 245 Seiten, 17,95 Euro