1964 ist der geburtenstärkste deutsche Jahrgang. Die Generation der Babyboomer prägt unsere Gesellschaft, darf aber auch erst mit 67 in Rente. Unser Autor ist einer von ihnen

Ich bin wie Johannes B. Kerner und Kai Diekmann. Wie Hape Kerkeling, wie Jürgen Klinsmann, Jan Josef Liefers und Ben Becker. Aber auch - tief durchatmen jetzt - wie Nicole, Henry Maske und Frauke Ludowig. Einer von viel zu vielen. Jahrgang 1964. Einer von 1 357 304 Deutschen, die in jenen 366 Tagen das Licht der Welt erblickten. Jeden Tag 3708, jede Stunde 155, jede Minute 2,5 Neugeborene. Man taufte uns später auf den Namen "Babyboomer".

Glaubt man den Klischees, bin ich entweder ganz kurz vor der Midlife-Krise oder schon knietief drin. Wir 64er sind die Ersten, die bis 67 arbeiten sollen. Können? Dürfen? Müssen! Zumindest sagt die Politik uns das heute, mit einem Unterton, der glaubwürdig sein soll. Ich hätte da so meine Zweifel, denn vor Jahrzehnten hat ein gewisser Norbert Blüm mir und meinen Eltern erzählt, die Renten seien sicher. Von ihrer Höhe hatte er allerdings nichts gesagt, und vom Generationenvertrag erst recht nichts. So viel dazu. Mit 67 ist wirklich Schluss mit fleißig? Klar doch. Und die Erde ist eine Scheibe.

Martin Rupps, Autor des Buchs "Wir Babyboomer. Die wahre Geschichte unseres Lebens" schrieb dazu: "Zusammen mit meinen Altersgenossen füttere ich drei Generationen durch: die letzten Angehörigen der Flakhelfer-Generation, die ersten Wohlstandskinder dieser Republik und die Frührentner der 68er. Wir sind die Melkkühe." Vielen Dank auch für diese Diagnose, jetzt geht's uns gleich besser. Und wo wir schon bei Klischees sind: Angeblich sollen ganz viele von uns ganz viel Geld übrig haben, als Kinder der Wirtschaftswunder-Eltern. Eine Statistik behauptet, wo wir Hauptverdiener in Haushalten sind, gebe es durchschnittlich zwölf Prozent mehr Vermögen.

Als wir geboren wurden, gab es noch die BRD. Für die Jüngeren unter uns, die dieses Land nur noch vom Hörensagen kennen: Das war der West-Teil Deutschlands, der dort endete, wo das "Drüben" anfing, die Gegend, in die uns als Teenager jeder reaktionäre Nörgel-Rentner gnadenlos gern verbannt hätte. "Dann geht doch rüber!" In die Zone, den Osten, wo laut meiner Oma, vom Russen aus Pommern vertrieben, der Iwan und seine roten Spießgesellen hausten. Wir wurden in ein Deutschland geboren, das es nicht mehr gibt.

Da Kinder auch ein Beleg dafür sind, dass ihre Eltern sich wohlfühlen im Leben, sicher und zuversichtlich, müssen ab Frühjahr 1963 paradiesische Zustände in Deutschland geherrscht haben. Es soll aber auch reichlich Stromausfälle und verschneite Dörfer gegeben haben.

Niemals zuvor und niemals danach gab es so viel Nachwuchs, in den Kreißsälen wurde quasi im Akkord entbunden. Der Pillenknick - eher ein Statistik-Steilhang - sorgte dafür, dass diese Drängelei bald ein Ende hatte. Von uns an ging's bergab. Bis 2002 hatte sich hierzulande die Geburtenzahl halbiert.

Wir 1964er sind mit Überfüllung groß geworden und haben dabei schon früh gelernt, uns durchzuboxen. Das begann in der Warteschlange vor der Kindergarten-Sandkiste und ist bis heute so geblieben. Wir fluteten die Grundschulklassen, die Berufsschulen, die Gymnasien und später die Universitäten. Wir waren nie weniger als 35 in meinen Schulklassen. Ging auch, irgendwie, und hat uns nicht geschadet. Das Spiel unseres Babyboomer-Lebens war "Reise nach Jerusalem", es gab überall mehr Sitzwillige als Stühle. Wir waren nie allein.

Einer von viel zu vielen zu sein hat aber auch sein Gutes. Wir waren nie allein. Für uns wurde noch gut gesorgt. Meine Generation ist eine der am besten ausgebildeten Arbeitskohorten, lediglich 16 Prozent von uns haben keinen beruflichen Abschluss. Numerus-Clausus-Schikanen und jahrhundertelange BAföG-Abstotterei haben viele von uns nicht davon abhalten können, etwas mehr oder weniger Ordentliches zu werden.

Der Soziologe Heinz Bude attestierte uns Babyboomern, wahrscheinlich mit mitleidig-ironischem Lächeln, eine "fröhliche Ereignislosigkeit". Und als ob das noch nicht reichte, schrieb er uns auch noch eine bittere Erkenntnis ins Stammbuch: "Das Trauma einer Generation ist ihre Wegdenkbarkeit. Dass man sie gar nicht braucht."

Als wir groß wurden, war vieles noch klarer geregelt, überschaubar und verständlich. Klar war, dass die Heizung im VW Käfer unserer Eltern immer erst genau vier Meter vor dem Fahrtziel ansprang, egal wie weit die Strecke bis dort gewesen war. Zum Ausgleich durfte man im Winter das Eis von der Innenseite der Windschutzscheibe kratzen. Musik gab es auf LPs oder Singles, und wenn man sie vervielfältigen wollte, gab es immer dann Bandsalat im Kassettenrekorder, sobald der frische ABBA-Hit im Radio gesendet wurde.

Klar geregelt waren auch viele gesellschaftliche Zustände und Befindlichkeiten. Vieles war beruhigend sicher. Es gab noch keine Urlaubsländer, die im Sechs-Tage-Rhythmus pleitezugehen drohten. Wir hatten die D-Mark, alle anderen hatten anderes Geld. Mag sein, dass es in den USA auch Banken gab, aber das juckte niemanden. Wer einen Job hatte, wechselte nicht wie wild in den nächstbesten, sondern behielt ihn brav jahrzehntelang. Globalisierung war, wenn überhaupt, höchstens ein sonderbares Fremdwort und Telefone hatten Wählscheiben. Das World Wide Web war noch mehr Science-Fiction als "Raumschiff Enterprise". Wir hatten die Bundespost, die damals noch tat, was sie sollte.

Das Schlimmste, was unseren Horizont leicht eintrübte, waren die autofreien Sonntage, weil die Saudi-Scheichs unseren Eltern das Benzin zu Wucherpreisen verkaufen wollten. Bis 1986 die Meldung kam, ein Kernkraftwerk irgendwo drüben, in der Ukraine, in Tschernobyl, sei kollabiert. Pilze flogen von den Einkaufszetteln und waren irgendwann doch wieder zurück auf den Tellern. Wer uns als Gegner der Volkszählung damals aufgelistet hätte, was wir heute freiwillig in unser Facebook-Profil schreiben, wäre von uns für verrückt erklärt worden.

Einige wenige gute Jahre haben wir Babyboomer noch. Danach wird es deprimierend, denn laut einer Krankenkassenstatistik sollen die meisten und langwierigsten psychischen Störungen sich zwischen dem 50. und 54. Geburtstag ins Gemüt bohren. Viele von uns sind zu Bestimmern oder wenigstens Mit-Bestimmern gereift; die Schalthebel der Macht seien in Griffweite oder gleich ganz in unserer Hand, behaupten Jüngere gern. Der blanke Neid der Anfänger, finden wir und hören einfach weg. Da sind wir Pragmatiker. Gelernt ist gelernt. Einer von uns brachte es in einer schmerzhaft wahren Nabelschau im "Spiegel" auf den Punkt: "Wir sind gut ausgebildet. Wir sind einigermaßen vermögend. Wir haben Kreditkarten." Klingt wie eine Drohung für die Nachrücker - und war auch so gemeint.

Geeint, auf einen Nostalgie-Nenner gebracht, werden wir 64er durch unsere Erinnerungen, unsere Sozialisation in einer inzwischen weit entfernten Zeit. An Retro-Requisiten zum Ankuscheln unserer Erinnerungen herrscht kein Mangel. Ob deswegen, wie bei jeder Generation, früher alles besser war, das haben wir zumindest stellenweise schon vergessen oder gnädig verdrängt.

Unser Internet hieß Zeitungskiosk oder wurde unter dem Namen Karl-Heinz Köpcke mit der "Tagesschau" jeden Abend um 20 Uhr ins Wohnzimmer geliefert. Wie es ansonsten in der Welt aussah, zeigten uns Dia-Abende der lieben Verwandten. Unser offenbar ewiger Bundeskanzler war Helmut Kohl. Birne war nicht nur Obst, sondern auch Schimpfwort. Politisiert wurden wir durch Gerhard Löwenthals Kommunisten-Pranger im ZDF, die Nachrüstungs-Debatte und den Abscheu über Franz Josef Strauß. Im Fernsehen gab es nur drei Programme und oft noch nicht mal Programm, sondern nur ein Testbild.

Überhaupt, das Fernsehen. Die Glotze regelte unsere Adoleszenz mit ihren Pflichtterminen - "Väter der Klamotte", "Paulchen Panther", das minutenlange "Gute Nacht, John-Boy"-Ritual bei den Kelly-Family-Vorgängern, den Waltons. Loriot und das Kartoffelquetschen im "Seewolf". Nach dem "Reifezeugnis-Tatort" wollte 1977 jeder 13-Jährige, der nicht völlig verblödet war, Nastassja Kinski heiraten. Das Böse in der Welt dokumentierten Peter Nidetzky aus Wien und Konrad Toenz aus Zürich in "Aktenzeichen XY ... ungelöst". Nachts wurden wir geweckt, um die Mondlandung oder Box-Schlachten von Muhammad Ali zu bestaunen.

Man hat uns angesichts der rappelvollen Hörsäle als "Generation Arschkarte" verhöhnt. Joschka Fischer, einer dieser 68er-Nöler, dessen Lambrusco-Atem wir stets im Nacken hatten, hat uns als "Heiapopeia-Jugend" beschimpft. Machte uns alles nichts, wir waren von jeher hart im Nehmen. Nach uns war das bald schon anders, denn nach uns kam die zur Konsum-Fluffigkeit tendierende "Generation Golf" mit ihren "Scout"-Schulranzen, der Nutella-Sucht und den Playmobil-Figuren.

Wir hingegen hatten die Prilblumen, die klebrigsüße Ersatzbrause Tri Top, als Nasche die plombenreißenden "Musketier"-Karamellriegel und unseren Ehrgeiz, ein Schwimmabzeichen nach dem anderen zu erkämpfen. Wir hatten Supertramps "Crime of the Century", Ilja Richters "Disco", wir liebten oder verachteten die Bay City Rollers.

Die Helden dieser Jugend heute zu sehen ist kein schöner Anblick. Am liebsten würde man danach zur Sicherheit den Badezimmer-Spiegel verhängen.

Die ersten apokalyptischen Vorhersagen über unsere Endphase gibt es längst. Manche Experten prophezeien für das Jahr 2029 brutale Börsencrashs, weil dann Hunderttausende von 65-Jährigen gleichzeitig ihre Altersvorsorge-Papiere versilbern. Je nachdem, wie schlimm es für uns Arbeitsplatz-Methusalems kommt, dürfte sich diese Katastrophe um einige Jahre nach hinten verschieben. Doch mit uns rechnen muss man wohl, selbst in dieser unschönen Hinsicht.

Es gibt aber auch andere Visionen. Demnächst werde der Nachwuchs-Nachschub auf dem Arbeitsmarkt wegbrechen, heißt es, dann sollen unsere Chefetagen wieder froh sein, wenn sie uns ein paar Jahre länger haben können, damit überhaupt noch irgendwer Bares für die Jugend in die gigantischen Rentenkassenlöcher wirft. Mit einem Satz: Was weiß denn ich, wie's wird. Aber wir alle werden es erleben, das ist ja unser mitgealtertes Problem.

Bei uns Babyboomern wird für unsere Kinder und Enkel oft nur wenig oder nichts zu holen sein. Verfrühstückt, verjuxt, verbraucht, das Ersparte. Es geht eben oft nicht anders. Die Not wird vielleicht erfinderisch machen, wer weiß, möglicherweise sind unsere maßgeschneiderten Senioren-WGs die ersten, in denen die Abendbrottische nicht mehr mit Egerländer Blasmusik, sondern mit Rock-Klassikern von Bruce Springsteen beschallt werden. MTV goes Opa. Wir werden die Fitnessstudios besetzen, Hantelbank für Hantelbank, und einfach nicht wieder rausgehen. Wir werden in cooler Würde altern, und sogar das jetzt schon überlastete Gesundheitssystem wird uns nicht kleinkriegen auf diesen letzten Metern.

Gerade hat die Bertelsmann-Stiftung eine demografische Studie über die Vergreisung der Bundesrepublik vorgelegt. Danach wird die Bevölkerungszahl in Hamburg im Bereich 65plus bis zum Jahr 2030 - genau dann, wenn meine Rente fast durch sein könnte - um 20,2 Prozent steigen. Bei den Hochbetagten über 80 werden es sogar 43,9 Prozent mehr sein. Na toll, schöne Aussichten.

Da wir als Kinder der Statistik groß und mittelalt geworden sind, gibt es auch kurz vor dem Ende noch eine Zahl, die uns final definiert. Wir 1964er - egal ob durchschnittlich oder überdurchschnittlich - werden im Durchschnitt 77,12 Jahre alt. Danach wird es in Ohlsdorf und anderswo eng für uns. Der einzige, kleine Trost, ein allerletztes Mal.