Deutschlandpremiere: Das Thalia-Theater lässt Zuschauer über Teile des Spielplans abstimmen. Ein Streitgespräch über Sinn und Unsinn der Aktion.

Hamburg. Im Thalia-Theater wird gerade etwas probiert, das es an einem deutschen Theater noch nie gab. Hier sollen auch die Zuschauer darüber entscheiden, welche Stücke in der kommenden Saison gespielt werden. Bis zum 16. Dezember läuft die Aktion noch, die drei meistgenannten sowie ein origineller Vorschlag werden dann in der Spielzeit 2012/2013 aufgeführt.

Das ist originell. Aber sollten nicht eigentlich Fachleute darüber entscheiden, welche Stücke in einem der größten und bedeutendsten deutschen Theater gezeigt werden? Beraubt sich die Theaterleitung nicht so ihrer Möglichkeiten, wichtige und zeitgemäße Stücke auszuwählen?

Schmeißt sich das Thalia-Theater jetzt an die Zuschauer ran und vergisst dabei, auf Qualität zu achten? Zwischen Kunst und Demokratie herrscht eine prinzipielle Unvereinbarkeit, Gerechtigkeit in der Kunst gibt es nicht. Sagt Abendblatt-Redakteurin Armgard Seegers und führte mit Thalia-Intendant Joachim Lux und Dramaturg Carl Hegemann ein Streitgespräch.

Hamburger Abendblatt:

Was versprechen Sie sich davon, dass Zuschauer über Ihren Spielplan entscheiden?

Carl Hegemann:

Es ist ein Experiment. Wir wollen wissen, ob die Menschen das Gleiche wählen, was die Statistik des deutschen Bühnenvereins als die beliebtesten Stücke auflistet. Wir imitieren eine demokratische Wahl. Das gibt jedem die Möglichkeit, sich über das Theater Gedanken zu machen und sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Das ist nicht ohne Risiko. Wenn bei der Abstimmung etwas herauskommt, das uns nicht passt, dann müssen wir versuchen, für uns und das Publikum das Beste daraus zu machen. Ich habe einmal in meinem Leben FDP gewählt, weil wir uns ausgerechnet haben, dass die FDP als kleiner Koalitionspartner mit fünf Prozent die SPD retten könnte. Hinterher hatte die FDP 15 Prozent und konnte mit der CDU koalieren.

Joachim Lux:

Vom Theater wird behauptet, es stecke in der Krise. Insbesondere sei es elitär und brauche mehr Publikumsakzeptanz und -mitwirkung. Wir testen, in welchem Spannungsverhältnis sich Publikum und Theater befinden. Das ist ein Experiment - die Möglichkeit zum Scheitern inbegriffen.

Bisher hat es doch auch ohne Publikumsabstimmung funktioniert.

Hegemann:

Wenn die Wähler genau das wollen, was wir sowieso schon machen, wäre es auch nicht schlimm.

Oben auf der Wunschliste stehen nun weitgehend unbekannte Dramen. Haben die Thalia-Leiter die möglicherweise bisher zu Unrecht übersehen?

Lux:

Sie kennen die Theorie, dass man Pförtner und Betriebschef gegeneinander austauschen soll, weil da neben 999 Fehlern eine geniale Entscheidung herauskommen könnte? Das ist die Hoffnung. Aber ich muss als Intendant natürlich auch die übergeordneten Interessen des Betriebs bedenken. Wenn also die Grundvoraussetzungen nicht stimmen sollten, dann muss ich Schaden abwenden. Die Freiheit der Kunst ist dadurch nicht bedroht.

Hegemann:

Wir haben von Anfang an betont, dass wir die künstlerische Umsetzung selbst bestimmen. Was wir aus den gewählten Stücken machen, kann uns niemand vorschreiben. Falls der absurde Fall eintreten sollte, dass die Mehrheit ein völlig blödes Stück wählen würde (was ich bis jetzt nicht sehe), könnte man zum Beispiel so ein Stück auf fünf Minuten zusammenstreichen und als Vorprogramm zu einer anderen Inszenierung aufführen. Wir werden jedenfalls keine Steuergelder für Schwachsinn verschwenden.

Das klingt vernünftig.

Hegemann:

Ich glaube nicht, dass die Zuschauer so dumm sind, auf die ersten Plätze nur absoluten Schrott zu wählen. Sonst müsste man ja das Vertrauen in die Demokratie komplett verlieren.

Abstimmung per Facebook hat aber nichts mit Demokratie zu tun.

Lux:

Unsere Demokratie hat auch nicht immer mit Demokratie zu tun. Sie funktioniert sehr oft nur über Absprachen und Lobbyismus.

Hegemann:

Demokratie und Manipulation lassen sich nicht immer fein säuberlich trennen. Ohne Facebook gibt's auch Absprachen. Demokratie erzeugt kuriose Ergebnisse. Der eigentliche Sieger dieser Wahl steht für mich jetzt schon fest. Das sind die Einzelvoten. Ungefähr 420 verschiedene Vorschläge sind schon eingegangen.

Ist es nicht gefährlich, Fachkompetenz in die Hände von Laien zu geben?

Lux:

Der "Laie", von dem Sie sprechen, ist der Bürger, der alle vier Jahre wählt, und über Dinge abstimmt, von denen er häufig nicht viel versteht, die aber sein Leben möglicherweise noch mehr beeinflussen als das Theater.

Sie signalisieren, dass jeder das kann, was Sie können: Theater machen.

Hegemann:

In der Tat. Jeder Mensch, der sich öffentlich bewegt, macht jeden Tag Theater. Das wissen wir spätestens seit Shakespeare. Wir müssen dieses Theater aber so auf die Bühne übertragen, dass es für unser Publikum sehenswert ist und unseren eigenen ästhetisch politischen Ansprüchen genügt.

Für den Fall, dass drei unbekannte Stücke gewählt werden und die Zuschauer wegbleiben, was passiert dann?

Hegemann:

Dann sagt der Intendant, dass wir eine Wahl veranstaltet haben und eine große Mehrheit leider für völlig unbekannte Stücke gestimmt hat.

Lux:

Möglicherweise sagt er aber auch, dass es um eine Publikumswahl am Thalia ging und nicht an einer Klitsche. Es gibt wie gesagt Parameter. Sie betreffen das Niveau des Theaters wie auch seine ökonomischen Notwendigkeiten.

Hegemann:

Ich habe eines der unbekannten Stücke gelesen, die beim Publikum derzeit weit oben stehen. Es haben schon Regisseure aus schlechteren Vorlagen gute Inszenierungen gemacht. "Am Theater ist nichts unmöglich", sagt Striese im "Raub der Sabinerinnen".

Lux:

Das Ganze dient der Auseinandersetzung mit dem Theater, aber auch mit den Merkwürdigkeiten der Demokratie. Seit Kurzem aber entwickelt es sich mehr zu einem internetgestützten Happening mit zig Abstrusitäten, angeführt von unseren Freunden, den Spaßvögeln von Kampnagel. Das Schöne ist, wir mögen uns wirklich ...

Warum lassen Sie drei Stücke auswählen? Hätte nicht eins genügt?

Hegemann:

Ein einziges Stück zur Wahl zu stellen wäre nicht mehr als eine plakative Marketingaktion. Die Kunst lebt auch vom Risiko und der Bereitschaft, sich selbst überraschen zu lassen.

Die öffentliche Stimmenauszählung findet am 17. Dezember von 19 Uhr an vor, während und nach der Vorstellung "Der Raub der Sabinerinnen" statt.