Hamburg. Die Pointe sitzt. Zum Finale von Erna Omarsdottirs Tanzritual "Teach Us To Outgrow Our Madness" serviert, erweist sie sich als weiterer Tiefschlag. Nachdem die isländische Choreografin und ihre verschworenen Schwestern eineinhalb Stunden hemmungslos die weibliche Natur im K(r)ampf und Konflikt mit sozial oktroierten Frauenbildern darstellten, belohnen sie das brave, schreckensstarr oder vor Staunen gebannte Publikum mit sarkastischem Sirenengesang. Es bekommt also doch noch, was es sehen will: Entertainment. Die furiosen fünf bedienen im gurrendem Softsong das Klischee von der Verführerin, vom willigen Weibchen - führen es aber zugleich mit Hohn im Blick ad absurdum.

Beim Nordwind-Festival auf Kampnagel ist - ungewohnt und (wieder) gewöhnungsbedürftig - nach den saftlosen Orgien des postmodernen Diskurstheaters und blutleeren Konzeptkunst-Spielereien der Tanz und das Theater als Albtraum, Ekstase und Rausch zu erfahren. Es entzweit naturgemäß die Meinungen und Reaktionen von Kritik und Zuschauern. "Was Besseres kann Kunst nicht passieren und ich mir selbst nicht wünschen", freut sich die Kuratorin des Festivals, Ricarda Ciontos.

Omarsdottir ist eine Schamanin des zeitgenössischen Tanzes. Sie gibt ihm Form in archaischen Körperskulpturen und sucht in ihren entfesselten Hexentänzen ("Lehr uns, über unseren Wahnsinn hinauszuwachsen") mit peitschenden Haarmähnen, wildem Kopfkreiseln und Schreiarien die elementare Erfahrung des (weiblichen) Körpers hinter synthetischen Schönheitsbildern und zivilisatorischem Panzer. Sie will aufspüren und freisetzen. Tabulos, unschuldig und ungezähmt.

Kühl und ironisch distanzierter geht ihre Kollegin aus Norwegen, Ingun Bjørnsgaard, zu Werke. In dem Stück "Omega And The Deer" ist sie ebenfalls der animalischen Natur des Menschen auf der Fährte, bändigt jedoch die Balztänze artistisch und zuweilen akrobatisch in einer komplexen Choreografie für sechs fabelhafte Protagonisten. Leuchtend und rehgrazil im Zentrum, zugleich unnahbar und lockend, scheu und fordernd: Marianne Haugli. Ein blondes, langbeiniges, fragiles und aggressives Biest. Sie liefert sich erotische Duelle mit Mattias Ekholm, während sich Erik Rulin als Schreibtischhengst outet und sein Herrschaftsmöbel bespringt. Eine so kraftvolle wie komische Karikatur auf den entfremdeten Businessmann. Dagegen um- und verschlingen sich Marta-Luiza Jankowska und Matias Rønningen in Liebessehnsucht, ohne zueinanderzufinden.

Ohnehin dominieren die Frauen in diesem vielschichtigen Paarungsreigen zwischen Jagen und Gejagtwerden an der Grenze von kalter Bürowelt und dunkler Waldwildnis. Die surrealen Bewegungsbilder erzählen von Traum und Wahn der Liebeserfüllung.

Avendida Corrientes Tanztheater 15. u. 16.12., 20.00, Kampnagel, Karten unter T. 27 09 49; www.nordwind-festival.de