Wiedersehen macht Freude - Christoph Marthaler berührt mit “+-0 Ein subpolares Basislager“

Hamburg. Unförmig vermummt in dicker Daune samt Schneebrille stolpert Christoph Marthalers Grönland-Expeditionsteam in die Turnhalle. Ein von Anna Viebrock kongenial erdachter vergessener Ort der körperlichen Ertüchtigung, wie man ihn aus Vereinsheimen kennt: Die Verkleidung blättert vom Heizungsrohr. Pokale glänzen und Fotos lächeln von einem Regal herunter. Ein Basketballkorb lädt hell erleuchtet zum großen Wurf. Eine Tafel verkündet eine Klimakonferenz für das Jahr 2150. Aus einer Kühltruhe leuchtet es bläulich.

Um den Tisch gruppiert summen sich die Kämpfer gegen den Klimawandel erst mal warm. Mit Beethoven, Mozart, Strauss, Purcell. "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt" aus Brahms' "Deutschem Requiem" liefert den in Melancholie getränkten Subtext zum Projekt "+-0 Ein subpolares Basislager", das derzeit auf Kampnagel gastiert. Es ist kein Abend über Klimapolitik, eher eine emotionale Collage über einsame Seelenlandschaften.

Die zehn Figuren treiben ihre merkwürdigen Geschäftigkeiten streckenweise so sediert, als würden sie sich über einen Mond bewegen. Die Grönländerin Kassaaluq Qaavigaq stimmt unter den strengen Augen von Ueli Jäggi ein deutsches Kinderlied an. Man erzählt sich Witze. Aufruhr gibt es nur kurz, wenn sich die Truppe voller Gewalt gegen die mit Turnmatten verkleideten Seitenwände wirft. Die wundervolle Rosemary Hardy glänzt mit überdimensioniertem Lächeln in einer Parodie der obersten Klimaschützerin Angela Merkel. All diese lieb gewonnenen Gemeinschaftsrituale wirken wie aus einer längst vergessenen Theater-Ära und gleichzeitig dicht am schwächelnden Puls der Zeit.

Das Idyll einer verschworenen Gemeinschaft wird nur unterbrochen, wenn der ferne Expeditionsleiter mal wieder aus dem Megafon krächzt (oder schnarcht) oder auch mal brüllt "Soll ich mir eine Walhaut überziehen bei -20 Grad?" oder wenn die Alarmglocke brutal aus süßen, menschenleeren Grönlandträumen reißt. Man erfährt einiges über Berge, Meere, Eislandschaften in Textschnipseln von Borges bis Döblin und wird eingeweiht in die Geheimnisse der Glazial-Kosmologie. Der Klimawandel ist vor allem atmosphärisch bedrohlich anwesend. Wenn der großartige Ueli Jäggi über eine Zeit lamentiert, in der die Nordsee an die Alpen schwappt. "Und umgekehrt."

Ein Marthaler-Abend ist ohne diesen kauzigen Humor, die ungelenk durch den Raum stolpernden Figuren, aber auch ohne fühlbare Längen nicht vorstellbar. Und doch ist es eine einzige Wonne, wenn am Ende dieses bewegenden Abends der ganze Saal von dem Wassergläserkonzert Jürg Kienbergers entschleunigt und tiefenentspannt im Sitz hängt, dem Team beim tänzerischen Handy-Eisstockschießen zuschauend. Zu Beethovens Allegretto aus der 7. Symphonie ebbt der Gesang ab. Zurück bleibt ein tropfendes Blubbern. Da ist die Schmelze im Herzen längst vollzogen. Ginge es nach Marthaler, bestünde für Grönland noch Hoffnung.

Christoph Marthaler: +-0 Ein subpolares Basislager Sa 10.12., 21.00, Kampnagel, Jarrestraße 20-24; www.kampnagel.de