Schauspielhaus-Projekte von Christoph Marthaler sind legendär. Jetzt richtet er sich mit “subpolarem Basislager“ auf Kampnagel ein.

Hamburg. Während Christoph Marthalers Theaterproduktionen für ihre lakonisch-verdruckste Melancholie berühmt sind, ist der Regisseur selbst ein überaus humoriger Gesprächspartner, der sich keinen Gluckser verkneifen mag. Mit so grandiosen Inszenierungen wie dem "Wurzel-Faust", "Kasimir und Karoline" oder "Stunde null" hat der Schweizer in der Schauspielhaus-Ära von Frank Baumbauer Theatergeschichte geschrieben.

Nun kehrt Marthaler mit einem Projekt auf Kampnagel für drei Abende nach Hamburg zurück: "+-0 Ein subpolares Basislager", eine ganz marthalertypische Besichtigung sonderbarer Charaktere, die er mit seinen Schauspielern zwei Monate lang auf Grönland erarbeitet hat.

Hamburger Abendblatt: Was war Ihre Absicht bei diesem Stück, aber vor allem: warum Grönland?

Christoph Marthaler: Es ist ganz schwer, von einer Absicht zu reden. Bei einem Gastspiel in Kopenhagen sagte ich jemandem, dass bei mir eine Art Sehnsucht nach Grönland existiert. Weil man das nicht kennt. Weil das weit weg ist. Drei Monate später rief er zurück, er hätte mit den Leuten dort Kontakt aufgenommen, die fänden das eine ganz tolle Idee. So fing das an. Ich wollte aber keine Produktion über Grönland oder die Grönländer machen, sondern eine in Grönland.

Hätte es nicht auch eine Fototapete und eine Probebühne getan, um sich auf das Land und dessen Atmosphäre einzustimmen? Wer Shakespeares "Richard III." inszeniert, zettelt deswegen doch auch keinen Krieg an.

Marthaler: Mich interessiert immer der Ort, an dem ich arbeite. Im Theater verbringe ich nur möglichst wenig Zeit. Und Grönland ist ja noch weiter weg als der Osten von Berlin, da war ich sehr oft. Es hatten auch Leute vorgeschlagen, einige Wochen nach Grönland zu fahren und danach in Berlin, Kopenhagen oder sonst wo zu proben. Aber das interessierte mich nicht.

In "Basislager" wird ein Buch des Philosophen George Steiner zitiert: "Warum Denken traurig macht".

Marthaler: Das ist ein wunderschönes Zitat.

Haben Sie eine Erklärung für Steiners Behauptung gefunden?

Marthaler: Nein. Ich lasse solche Sätze so stehen, wie sie sind.

Also sind die großen Fragen des Lebens womöglich viel schöner als die ernüchternden Antworten?

Marthaler: So ist es. Vielleicht. Aber für mich ist es im Theater schöner, über Dinge nachzudenken, die auch traurig machen. Ich denke manchmal zu oft, dann werde ich traurig und versuche, das wegzukriegen. Vor allem nachts.

Ist "vielleicht" vielleicht eines der wichtigsten Worte in Ihrem Leben?

Marthaler: Zustände sind mir wichtiger als Worte. Mich interessiert Traurigkeit im Theater, ich möchte das darstellen.

Die Einsamen seien die besonderen Menschen, haben Sie gesagt. Sie sind mit dem Spielen von Blockflöte und Oboe groß geworden. Was bewirkt das in einem Kind? Dem Klischee nach machen beide Instrumente eher einsam.

Marthaler: Das mag sein. Blockflöte ist wirklich ein einsames Instrument.

Und eine Oboe gilt auch nicht unbedingt als sexy.

Marthaler: Die ist überhaupt nicht sexy! Der Ton hat eine traurige, aber eben auch sehnsüchtige Melancholie - und dadurch auch Erotik vielleicht.

Bei Ihnen ist Musik immer mit im Spiel. Ist das eine Angst vor Stille - oder die Freude, die Stille auszutricksen?

Marthaler: Ich werde ja oft "Meister der Stille" genannt. Das habe ich selber nie so definiert. Ich weiß nicht, ob ich Angst vor der Stille habe. Ich liebe sie, und mich interessieren die Töne der sogenannten Stille. Das ist eine Musik, die ständig im Klingen ist. Ich liebe die Ruhe, die hilft mir. Aber ich habe viel mehr Angst vor der Tatsache, dass zu viel auf mich einwirkt - zu viele Töne, zu viel Text. Wenn im Theater unglaublich viele Texte vorkommen, kann ich dem nicht mehr folgen. Oder ich finde es lächerlich. Ich liebe es, wenn Schauspieler ihre Texte einfach sprechen, sich nicht bewegen oder irgendwie benehmen. Das können sie ja nach dem Text machen.

Wie gehen Sie mit der Gefahr des immer drohenden Selbstzitats um? Robert Wilsons Zeitlupe, Frank Castorfs Kartoffelsalat - und bei Ihnen diese verschrobene Bild- und Gemütssprache.

Marthaler: An Wiederholungen denke ich eigentlich nicht, wenn ich arbeite.

Und am Ende der Proben stellen Sie verdutzt fest: Verdammt, doch schon wieder, wie in so vielen meiner Stücke, eine Art von Wartesaal.

Marthaler: Das ist schon viel Klischee ... Es gibt auch andere Räume, in denen sich Menschen aufhalten können.

Wenn Regie Ihrer Meinung nach auch Selbsttherapie ist, wie erfolgreich war Ihre bislang?

Marthaler: Es ist schon ein privilegierter Beruf: Man kann Dinge abreagieren, sich äußern, darf Dinge tun, die man sonst in keinem Job tun darf. Es gibt und schafft Freiheiten.

"Ein Theater, das allen gefällt, ist suspekt." Ist von Ihnen - und schon auch Koketterie?

Marthaler: Ich mach doch keine Volkskomödien, wo alle schenkelklopfend lachen können. Diese Zustände auf der Bühne - es kann schon sein, dass Leute das nicht aushalten. Aber so ist es doch bei allen. Castorf-Inszenierungen kann auch nicht jeder aushalten. Hoffentlich nicht. Ich mach auch Theater fürs breite Publikum. Finde ich.

Kämen Sie in einem normalen Theaterbetrieb noch klar, oder sind Sie da nicht mehr sozialisierbar?

Marthaler: Fest an irgendein Stadttheater gehen könnte ich nicht mehr, und wenn es noch so interessant wäre. Ich brauche die Vielfalt und Räume, die eine Geschichte haben. Orte, wo man etwas entdecken kann. Für mich ist Theater auch eine Entdeckungsreise. Das kann man nicht auf einer Bühne, denn alle Stadttheater sehen ähnlich aus: Schnürböden, Seitenbühnen, Hinterbühnen, Drehbühnen vielleicht, die ich aber nicht benutze. Ich finde, Theater muss auf andere Weise Schwindel erzeugen.

Dafür, dass Sie mit Ihren Arbeiten Ihrer Meinung nach nichts zu sagen haben, sind Sie enorm fleißig. Sind das nur Ablenkungsmanöver, um sich nicht selbst beim Altern zuzusehen?

Marthaler: Das kann sein. Theater nutzt einen sehr ab. Man muss sehr aufpassen. Aber gleichzeitig hält es auch jung - oder vielleicht sogar kindlich.

"+-0 Ein subpolares Basislager" 8./9./10. Dezember, 20 Uhr, Kampnagel. Karten 15 bis 36 Euro, Tel. 040/27 09 49 49. www.kampnagel.de