Steven Pinker versucht in seinem neuen Buch über die Geschichte der Gewalt den Nachweis, dass wir früher viel brutaler waren als heute.

Hamburg. Der amerikanisch-kanadische Evolutionspsychologe Steven Pinker braucht in seiner Studie nicht lang, um auf die Kernthese zu kommen. Er formuliert sie im ersten Absatz: "Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert." Pinkers Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" ist dick, dem ersten Absatz folgen unzählige weitere auf 1030 Seiten (ohne Literaturapparat). Auf gefühlt jeder dieser Seiten ist Pinker verflucht überzeugend.

Nicht nur in der intellektuellen westlichen Welt herrscht seiner Meinung nach bei den meisten die Auffassung, unsere Gegenwart sei die gewalttätigste aller Zeiten. Genau deswegen entwickelt der Gelehrte aus Harvard eine wissenschaftlich kräftig unterfütterte Argumentation, die keinen Zweifel daran lässt, was für eine Leistung der sich zivilisierende Mensch vollbracht hat und wie unwahrscheinlich der Status quo eigentlich ist. Aber denkt man selbst nicht in anderen Kategorien? Für einen Europäer, zumal einen Deutschen, erscheint die Vergangenheit viel gewalttätiger als die Gegenwart.

Es ist ja eine, in der monströse Kriege keine Rolle mehr spielen. Von diesen gewissermaßen paradiesischen Zuständen berichtet Pinker in seiner vor Fakten, Daten und Motiven überbordenden Studie. Wer dieses gewichtige Buch gelesen hat, der weiß den "langen Frieden", in dem wir laut Pinker leben, erst richtig zu schätzen: Weil er das ungleich größere Gewaltpotenzial der frühen Teile der Menschheitsgeschichte untersucht, als Mongolen und Chinesen mordeten und brandschatzten.

Was finden wir heute? U-Bahn-Schläger, die die Großstädte unsicher machen. Selbstmordattentäter in Afghanistan. Und, zeitgeschichtlich gesehen, vor Kurzem: einstürzende Wolkenkratzer in New York. Das kann zu dem subjektiven Eindruck führen, wir lebten in einer Zeit voller Hass. Dem ist jedoch nicht so. Vor allem nicht, wenn man die Gräuel der Jetztzeit und der jüngeren Vergangenheit in Relation zu den Blutorgien vergangener Jahrhunderte setzt. Wir leiden unter "historischer Kurzsichtigkeit", wie Pinker das nennt. Er stellt die Linse scharf und findet seine neue Geschichte der Menschheit. Es ist eine, die unbedingt optimistisch ist und an den Fortschritt glaubt.

Was bedeutet es zum Beispiel, wenn nicht der Zweite Weltkrieg zahlenmäßig der Maßstab aller Dinge ist? Wenn die 55 Millionen Toten zwar kaum zu fassen, aber viel weniger sind als die 429 Millionen, die im An-Lushan-Aufstand gegen die Tang-Dynastie im achten Jahrhundert starben? Respektive gestorben wären. Forscher gehen von damals "nur" 36 Millionen Toten in China aus. Die andere, weitaus größere Zahl basiert auf einer einfachen Hochrechnung: Wie viele Menschen wären Opfer des gewaltigen Blutdurstes geworden, wenn China schon so dicht besiedelt gewesen wäre wie heute? Das Gedankenspiel lässt uns keinen anderen Blick auf die Untaten der Vorväter werfen. Aber es weitet den Horizont.

Pinkers Zahlen-Obsession breitet sich auf Dutzenden Diagrammen auf, die seine Beweisführung zu einer engmaschigen Angelegenheit machen. Neben den Kriegen, die die Menschheit von Anbeginn an begleiteten, sind es innergesellschaftliche Parameter und die Wirkung der Regeln im persönlichen Umgang miteinander, die Pinker misst.

Der Mensch ist des Menschen Wolf, diesen Ausspruch hat Thomas Hobbes berühmt gemacht. Aber früher war er eben mehr Wolf als heute. Pinker beginnt seine Studie mit dem alten "Ötzi", der vor einigen Jahren in einem Gletscher gefunden wurde. Er starb, wie diejenigen rekonstruieren konnten, die genau hinschauen, durch die Hand eines Zeitgenossen. Ein Fall, der die Gepflogenheiten in grauer Vorzeit illustriert.

Das Heute hebt sich grell davon ab, etwa in den mannigfaltigen Kurven, die das abbilden, was wir die Modernisierung unserer Lebensumstände nennen. Man kann alles messen, die Zahl der Lynchmorde, die Einstellung Minderheiten gegenüber, die gesellschaftliche Stellung der Frau (diese ist weniger gewalttätig als der Mann), die Veränderungen in der Kindererziehung.

Aber es ist, wenn man die banale Plausibilität der menschlichen Errungenschaften beiseite lässt, eben nicht alles restlos erklärbar: Warum leben wir seit beinah 70 Jahren, zumindest in der westlichen Welt, in einer beispiellosen Ära des Friedens? Die "Humanitäre Revolution", wie Pinker die große Wende zum Guten nennt, kam natürlich schon mit der Aufklärung. Wohlstand, Demokratie, Moral, Humanismus: Das alles setzte sich durch, weil der Mensch irgendwann das Mitgefühl entdeckte. Die Fähigkeit, Mitgefühl zu zeigen, lagert an irgendeiner Stelle unseres Gehirns - das gilt aber auch für die Aggression.

Evolutionsbiologen gehen immer schon davon aus, dass die Fähigkeit zu brutalem Handeln unverrückbar zu unserer DNA gehört.

Die große Errungenschaft der Zivilisation ist nun, die ererbte Veranlagung seit 1945, so weit es geht, in den Hintergrund gedrängt zu haben. Ihre Hauptabsicherung findet die Entscheidung zu weitgehender Gewaltlosigkeit in den Menschenrechten.

"Wenn ich mein Geld auf eine einzige, wichtigste Ursache für die Revolutionen der Rechte verwetten sollte, würde ich auf die Technologie setzen, die Ideen und Menschen immer mobiler machte", sagt Pinker. Der Fortschritt, will er damit sagen, setzt sich dann durch, wenn er sich verbreitet.

Pinkers Belesen- und Gelehrsamkeit manifestiert sich in bewundernswert dichten Kapiteln und im Zusammenspiel der Disziplinen. Auf seiner Suche nach der Richtung, die die Gewalt in der Menschheitsgeschichte einschlug, greift Pinker auf kulturgeschichtliche, soziologische, biologische, neurologische und psychologische Konzepte zurück. Seine Darstellung des ethischen Wachstums ist kohärent.

Dessen Siegeszug symbolisiert eine Straßenszene, deren Pinker in Amerika ansichtig wird: Zwei sich kabbelnde Kinder, von denen eines weint, dazu eine strenge Mutter, die sie mit nur einem Wort ermahnt, "Empathie".

Wir leben in einem Zeitalter der Einfühlung, sagt Pinker. In diesem Zeitalter macht er sechs "Trends" aus, die unseren zunehmenden Verzicht auf Gewalt spiegeln: den Befriedungsprozess, den Zivilisationsprozess, die bereits genannte Humanitäre Revolution, den Langen Frieden, den Neuen Frieden (das ist die Friedensphase nach dem Ende des Kalten Krieges) und die Revolution der Rechte. Ihnen stehen die fünf "Dämonen" räuberische Gewalt, Herrschaftsstreben, Rache, Sadismus und Ideologie gegenüber. Zum Glück gibt es jene vier "besseren Engel", die uns zumindest tendenziell friedfertig machen: Empathie, Selbstbeherrschung, Moralgefühl, Vernunft.

Sie halten die Dämonen im Zaum, und deshalb stand es schon schlechter ums Menschengeschlecht.

Steven Pinker: "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit". Übers. v. Sebastian Vogel. S. Fischer. 1212 S., 26 Euro