Das ist die Kraft der Linie, hatte sie gesagt und mit einem Brotmesser eine Linie in den Holzfußboden gekratzt, die einmal diagonal durch das Zimmer verlief. Anschließend nahm sie meine Sachen und packte sie auf die eine, drapierte ihre hübsch auf der anderen Seite. Am Abend nähte sie einen Pelzvorhang und spannte ihn exakt durch den Raum.

Wohnraum ist knapp in Hamburg. Jahre hatten wir gesucht, um schließlich dieses 23 Quadratmeter große Einzimmerappartement zu ergattern, das mit 900 Euro Warmmiete fast ein Schnäppchen war. Das Klo befand sich im Treppenhaus, eine kleine Kochnische auf ihrer Seite, ich aß viel Brot zu jener Zeit. Ein Auszug wäre der sichere Weg in die Obdachlosigkeit gewesen, und so arrangierten wir uns. Versuchten, trotz der Umstände, einander zu vergessen. Nachts hörte ich Anna weinen. Hörte sie neue Bekanntschaften schließen. Manchmal drückten fremde Männergesäße durch den Pelzvorhang. Hin und wieder hörte ich meinen Namen, anschließend das Kichern ihrer Freundinnen. Ich war viel draußen.

Schließlich, nach einem halben Jahr etwa, zog ihr neuer Freund Dirk zu ihr, mit dem sie nun hinter dem Vorhang lebte und, wann immer ich zu Hause war, mir Glück vorzugaukeln versuchte. Anna wurde schwanger, Dirk begann zu trinken und war nun häufig auf meiner Seite der Einzimmerwohnung, wo wir Gewaltfilme sahen oder uns an kleinen Saufspielen versuchten, bis Anna ihn zum Essen rief. Nachts hörte ich sie über Freiräume und Hygiene streiten. War Anna allein, schrieb sie laut in ihr Tagebuch: Glück ist vermutlich nur eine Relation, das ist mir nun klar.

Auch ich lernte jemanden kennen, wir zogen zusammen, trennten uns, so wie Dirk und Anna, und neue Linien mussten gezogen werden. Viel Platz bleibt nicht, alles ist Pelzvorhang.

Vielen geht es wie uns, und derzeit gibt es sogar eine Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe zu der Kraft der Linie.