Sie machen oft nur eine kleine Meldung in den Nachrichten aus, die vielen Flüchtlinge aus Afrika, die auf überladenen, schrottreifen Booten über das Mittelmeer nach Europa kommen. Viele erreichen ihr Ziel nicht oder stranden in den Auffanglagern Süditaliens. Es sind die Massen, die meist schockieren, nicht die Einzelschicksale.

Der Halbägypter Ortwin Ramadan aber erzählt in "Der Schrei des Löwen" ein solches Einzelschicksal, gibt damit diesen Menschen ein Gesicht, eine Individualität. Er hat einen beeindruckenden, erschütternden und zugleich spannenden Jugendroman geschrieben.

Der 16-jährige Yoba und sein kleiner, autistischer und schwer traumatisierter Bruder Chioke leben als Straßenkinder in Nigeria. Yobas Traum: nach Hamburg zu kommen, um dort Arzt zu werden, damit er seinen Bruder heilen kann. Da lässt er sich auf einen Deal mit einem Gangsterboss ein, der schiefgeht, ihm aber sehr viel Geld beschert. Yoba und Chioke bleibt nur die Flucht - durch die Wüste bis ans Mittelmeer, eine Reise voller Gewalt, Entbehrung und enttäuschter Hoffnungen. Sie treffen auf korrupte Soldaten, skrupellose Schleuser, schweigsame Tuareg und auch hilfsbereite Menschen. Was wie ein Abenteuerroman beginnt, entwickelt sich zu einer tief bewegenden Geschichte zweier Jungen in einer fremden Welt voller Armut, Gewalt, Voodoo und Hunger. Geschickt erzählt Ramadan parallel zu Yobas Geschichte die von Julian, einem genervten Teenager aus Hamburg, der mit seinen Eltern Ferien in einem Ferien-Resort auf Sizilien macht und dort am Strand Yobas Tagebuch findet. Ein absolut großartiger Roman, auch für Eltern.

"Der Schrei des Löwen", Ortwin Ramadan, Carlsen Verlag, ab 13 J., 288 S., ISBN 978-3-551-31017-0, 9,95 Euro