Der Viola-Virtuose Antoine Tamestit spielt auf der ältesten erhaltenen Viola aus Stradivaris Werkstatt Berios “Voci“.

Man stelle sich einen Maurer vor, in dessen Werkzeugschlaufe an der Hose der Hammer eines der Bauhütten-Meister baumelt, die vor Jahrhunderten an der Errichtung des Kölner Doms mitgewirkt haben. Sein Hammer ist kein Museumsstück, sondern ein Werkzeug. Er wurde stets weitergereicht, von Baumeisterhand zu Baumeisterhand. Würde ein Maurer nicht auch vor Ehrfurcht erschauern, wenn er damit heute, sagen wir, an der Elbphilharmonie mitwerkeln würde, und verliehe das Gerät nicht auch diesem Bau die Aura vergangener Jahrhunderte?

So ähnlich muss man sich das mit den alten Geigen vorstellen. In Cremona schuf Antonio Stradivari im 17. und 18. Jahrhundert Instrumente, die so vollkommen waren wie die keines zweiten Geigenbauers. Auch wenn sie häufig im Besitz von Banken oder Stiftungen sind: Von Geigerhand zu Geigerhand weitergegeben, bleiben Stradivaris Meisterstücke stets in den Händen der Besten ihres Fachs. Falls sie sie nicht im Taxi liegen lassen oder ein geschickter Langfinger sie ihnen stiehlt, hüten sie ihre Violine wie ihren Augapfel.

Auch Antoine Tamestit spielt ein solches Instrument - und zwar die älteste erhaltene Viola aus Stradivaris Werkstatt. Die zum 100. Geburtstag Gustav Mahlers 1960 von einer Stiftung erworbene und nach dem Komponisten benannte Bratsche wurde 1672 gebaut. Kein Wunder, dass Herr Tamestit das Instrument wie eine Reliquie verehrt und gern nah am Körper trägt - nicht nur für den Fotografen.

Sein Debüt bei den Philharmonikern gibt der 1979 in Paris geborene Musiker mit einem ausgefallenen Werk, den "Voci" für Viola und zwei Instrumentalgruppen von Luciano Berio. Zeitgenössische Musik ist für Tamestit unverzichtbar, auch wenn sein Leib-und-Magen-Stück die Arpeggione-Sonate von Franz Schubert ist. Der Virtuose weiß genau, wie viel sein Instrument den Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts verdankt. Mit Ausnahme einiger weniger Orchesterstücke, in denen die Viola eine herausgehobene Rolle spielt, etwa in Mozarts Sinfonia concertante Es-Dur, blieben die Möglichkeiten und Schönheiten der Bratsche bis zur Spätromantik weitgehend ungenutzt. Selbst in ihrer vermeintlichen Hauptrolle, im klassischen Streichquartett, bleibt sie Lieferantin der Mittelstimme, Dienerin, akkordische Sättigungsbeilage.

Luciano Berio greift mit dem "Voci"-Konzert aus dem Jahr 1984 seinen Liederzyklus "Folk Songs" wieder auf, weshalb das Konzert auch den Untertitel "Folk Songs II" trägt. Anschließend spielt das Orchester die sinfonische Dichtung "Die Fresken des Piero della Francesca" (1950) des Tschechen Bohuslav Martinu, der den Wandgemälden in San Francesco in Arezzo hier ein klingendes spätromantisches Denkmal setzt. Danach erwartet die Zuhörer eine Auswahl aus Antonin Dvoráks "Slawischen Tänzen" op. 46 und 72. Beide Zyklen bestehen jeweils aus acht Tanzsätzen, da tut Beschränkung gut. Simone Young dirigiert das Konzert.

5. Philharmonisches Konzert 22.1., 11 Uhr, und 23.1., 20 Uhr, Laeiszhalle. Karten unter T. 35 68 68