Eine Zwölfjährige rettete dem Hamburger Kriegsreporter Jochen Voigt vor 44 Jahren in der vietnamesischen Kleinstadt Hoi An das Leben.

Die Reise meines Lebens beginnt in einer kleinen Souterrainwohnung in Eppendorf, in der Hegestraße Nummer 5. Ein paar ausgetretene Stufen führen von der Haustür in das muffige Wohnzimmer. Es riecht nach Eintopf, alten Zeitungen und einer Katze. Ein halb abgebranntes Räucherstäbchen kämpft mit einer hauchdünnen Rauchfahne gegen die Duftmischung an. Ich hatte mich gegen diese Verabredung mit der Kartenlegerin gewehrt, zu der meine Mutter mich geschleppt hat. Widerstand zwecklos.

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Während die ältere Dame am Tisch darüber nachdenkt, ob ich bald sterben muss, und wenn ja, wann, sieht sie mich finster an. "Vietnam, Krieg, Tod", orakelt sie über den ausgelegten Karten. Schließlich sagt sie: "Du wirst gesund und unverletzt wiederkommen. Aber geh nie ein zweites Mal in dieses Land, solange dort Krieg ist."

Damit war der Weg frei. Ich durfte mit Erlaubnis meiner Mutter für Deutschland in den Vietnamkrieg ziehen. Als Fotograf, als Kameramann, als Ambulanzfahrer.

Es ist Januar 1967, ich bin 20 Jahre alt. Nach einem hastigen Abgang von der Schule, drei Jahren Seefahrt und drei Monaten auf der Hamburger Fotoschule mache ich die ersten Schritte auf dem Weg zu meinem Traumjob: Fotoreporter. Aber noch bin ich Volontär bei einer Hamburger Presseagentur, ich muss Kleinkram fotografieren: den größten Rammler im Kaninchenzüchterverein für "Bild", die kleinste Frau der Welt im Wanderzirkus für die "Mopo", Fußball, Tischtennis.

Zwischendurch ein Termin im Hafen für das Hamburger Abendblatt. Krankenwagen werden auf ein Schiff gehievt, Bestimmungsort: Saigon/Vietnam. Es ist saukalt da draußen, die Finger sind klamm, und irgendwie ist immer ein Tampen, ein Ladebaum oder ein nervöser kleiner Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen im Bild. Als ein weißer VW-Bus mit der Aufschrift "Duc Quoc - Malteser Hilfsdienst" endlich am Haken hängt, drücke ich auf den Auslöser. Es ist das erste von mehr als 5000 Fotos, die ich in den nächsten 300 Tagen über den Hilfseinsatz der Deutschen im Vietnamkrieg machen werde. Fotos von jungen Ärzten, Krankenschwestern, Sanitätern. In Hospitälern, im Dschungellazarett. Fotos von Menschen im Krieg. Zerschossen, napalmverbrannt, verzweifelt. Voller Angst, voller Hoffnung.

Der kleine Herr, der vermeintliche Geheimagent, kommt zu mir und sagt, ohne sich vorzustellen: "Ich brauche dich. In Vietnam. Als Fotograf, als Kameramann. Du wirst die humanitäre Arbeit der Deutschen in Vietnam dokumentieren." Georg von Truszinsky, Einsatzleiter der Malteser, gefällt mir. Ein guter Einstieg für mich, den 20-jährigen Jungen, der ohne Vater aufgewachsen ist. Er hat mich am Haken wie seine VW-Busse, mit unserem Handschlag gilt der Vertrag.

Drei Tage später, Flughafen Frankfurt. Der erste von vier Motoren der Super Constellation bringt den mächtigen, dreiflügeligen Propeller zum Rotieren. Über den Wolken will ich die Angst rauskotzen, ich bereue meinen Entschluss schon. Was kommt jetzt auf mich zu?

"Wem die Stunde schlägt", "Im Westen nichts Neues". Das ist der Krieg, den ich aus Büchern im Kopf habe. Was muss ich mehr davon wissen? Diese Lektüre reicht doch für ein ganzes Leben. Nur das Brummen der Flugzeugmotoren beruhigt mich allmählich. Unter mir Indien, vor mir hinter dem Horizont Vietnam, ein Land im Krieg. Ich halte mich an den Worten der Wahrsagerin fest: "Du wirst gesund wiederkommen."

Ein paar Tage später in der Kleinstadt Hoi An. Die Kinder brüllen, die Mütter schauen neugierig zu, Schwestern und Ärzte freuen sich über das Spektakel: Ich wasche den Kindern mit Ölseife die Krätze vom Kopf, es macht Spaß, zwischendurch mache ich Fotos und Papierabzüge für die Kinder. Eine Sensation, die Kinder taufen mich Doc-Foto. Ich bin angekommen, in Hoi An, in Zentralvietnam, bei mir.

Hier am Brunnen des Krankenhauses gibt es keinen Krieg, das kleine Glück ist hier zu Hause. Nur aus der Ferne höre ich das Grollen der Geschütze, das Pfeifen der Flairs, der Leuchtbomben, die aus den Dakotas sausen und dann am Fallschirm hinunterschweben. Sie werfen lange Schatten mit ihrem gelbroten Licht. Gut für die amerikanischen Gunmen, tödlich für die flüchtenden Vietcong.

Fünf Monate später sieht es so aus, als sollte ich am Glücksbrunnen sterben. Morgens, kurz nach Sonnenaufgang. Wehrlos, durch eine Hinterlist des Vietcong. Ein etwa 16-jähriger Junge gibt mir eine Handgranate, damit sie von mir "sicher verwahrt werden kann". Aber es ist ein mieser Trick. Die Handgranate hat keinen Sicherungsstift, nur ein sich langsam aufribbelnder Kokosfaden hält jetzt noch den Auslösebügel.

Die 12-jährige Lien kennt den Jungen, der mir die Granate überreicht, und nur sie weiß, dass er ein Kind der Vietcong ist. Verzweifelt schreit sie: "Jochen, Jochen, number ten, number ten!"

Die Nummern sind bei den Kindern so etwas wie ein Geheimcode für Vertrauen. Die deutschen Ärzte halten mit "number one" die beste Position in der kindlichen Hitliste, die Amerikaner sind immerhin noch "number five". Dem feindlichen Vietcong geben sie hier im südlichen Zentralvietnam die schlechteste Note, "number ten" - höchste Gefahr. Weil die Kinder immer die beste Nachrichtenbörse sind, verstehe ich Liens Schreckensruf sofort. Ich starre die Handgranate an. Die Kokosschnur ribbelt sich auf, Faden für Faden. Wenn kein Fädchen mehr den Sicherungsbügel halten kann, fliegt die Granate in die Luft. Ein Heldentod wird es nicht sein, denke ich noch, und merke nicht, dass sich mein Daumen vor Angst an der richtigen Stelle des Bügels verkrampft hat. Phil, ein junger Amerikaner im meinem Alter, kommt angerannt: "Don't move Jochen, stay cool, I'll take it!" (Beweg dich nicht Jochen, bleib ruhig, ich nehme sie)."

Lien, die kleine Vietnamesin, rettet mir durch ihren Zuruf das Leben. Aber sie bringt sich damit selber in Lebensgefahr. Sie stand mit ihrer Familie auf der Seite der Amerikaner und hat, für alle hörbar, ein Kind der Vietcong verraten.

Eine Nacht später erlebt die Kleinstadt Hoi An die tödlichsten Angriffe seiner Geschichte. Jetzt werde ich unfreiwillig doch zum Kriegs reporter. Die Ärzte kämpfen einen verzweifelten Kampf um jedes Leben. Als Ambulanzfahrer ziehe ich verletzte Menschen in den VW-Bus. Zwei Kinder kann ich retten, einen schwer verletzten Mann muss ich im Dreck der Straße zurücklassen. "Keine Chance", schreit der Militärarzt in die Nacht. Wenige Wochen später erfahre ich, dass Phil, der junge Amerikaner aus Wichita in Kansas, getötet worden ist.

44 Jahre später beginne ich meine Zeitreise nach Vietnam wieder in der Hegestraße 5. Ich rieche wieder den Eintopf, sehe die fette Katze, höre die Stimme. Die Kartenlegerin lebt schon lange nicht mehr. Trotzdem bleibt etwas von ihr gegenwärtig. In ihrem Laden ist heute ein Versicherungsbüro. Über der Tür das Motto: "Wir helfen in allen Versicherungsfragen, auch bei Auslandsreisen".

Für mich ist Hoi An die schönste Kleinstadt Vietnams. Ich gehe wieder durch die Gassen. Dort hingen damals an den Ecken hastig gepinselte Plakate: "Watch out! Sniper!" Heute sitzen Touristen da, und anstatt auf Scharfschützen der Vietcong achtzugeben, muss ich jetzt den "Honda Dream"-Mopeds ausweichen. Pfeilschnell flitzen sie zwischen dem Fischmarkt am Thu-Bon-Fluss und der Gemüsegasse hin und her. Junge Leute ebenso wie ältere Marktfrauen fahren körpernahe Attacken auf alles, was im Weg steht, das gehört zur Lebensfreude in Vietnam.

Hoi An ist wieder der Ort geworden, der seinem Namen entspricht: ein friedvoller Versammlungsort. Am Nachmittag treffe ich Herrn Thai Te Tong zum grünen Tee. Er ist der Fotograf, bei dem ich vor 44 Jahren meine Filme entwickelt habe. Heute ist er 77, aber er erkennt mich sofort und zeigt sich wenig überrascht.

"Lien o dâu? Wo ist Lien?", frage ich ihn und zeige ihm die Fotos, die ich damals von der Zwölfjährigen gemacht habe. "Jeden Tag kommen Menschen aus aller Welt und wollen etwas über den Krieg wissen", sagt er mahnend, "aber Vietnam, das ist unser Land und kein Krieg!" Dennoch verspricht er, mir bei der Suche nach Lien zu helfen.

Überall frage ich herum, auf der Straße, im Fischmarkt, bei meinen Mopedtouren zu den Plätzen und Dörfern der Umgebung, die ich im Krieg fotografiert habe. Ich halte den verblüfften Leuten ein selbst gemachtes Plakat unter die Nasen: "Lien o dâu?", wo ist Lien? Mein Anliegen ist nicht ganz leicht zu vermitteln. "War es eine Lovestory?", fragen mich die Jüngeren. "Nein, no Lovestory, sie war zwölf, ich zwanzig. Ich will mich bei ihr bedanken."

Eine ältere Dame vom Fischmarkt, ein zierliches Persönchen, nimmt mich an die Hand, zieht mich 100-Kilo-Langnase einfach hinter sich her. Endlich stehen wir vor einem historischen Haus aus der Zeit, als Hoi An noch einer der wichtigsten Handelshäfen Asiens war. Ein Mädchen, Thoa, öffnet die mächtige Holztür. Khoa, ihre Mutter, erkennt mich nach 44 Jahren, sie war damals OP-Schwester im Krankenhaus von Hoi An. Heute ist sie 62. "Warst du der junge Mann, der den Kindern die Köpfe gewaschen hat?" "Ja, das war ich", sage ich und kann meine Tränen nicht zurückhalten.

Im Singsang der schönen, aber mir unverständlichen vietnamesischen Sprache diskutieren die Frauen mein Anliegen. Wo ist Lien? Kein Problem, sagen sie und kochen grünen Tee. "Wir werden Lien für dich finden."

Mit der Suche nach Lien geht der Vietnamkrieg endlich auch in meinem Kopf zu Ende. Ich merke, dass ich Frieden geschlossen habe mit den Kriegserinnerungen. Das Orakel aus der Hegestraße - "Gehe nie ein zweites Mal in dieses Land, solange dort Krieg ist" - hat keine Gültigkeit mehr. Jetzt kann ich nach Vietnam zurückkommen, wann immer ich will. Beim Abschied winken mir Khoa und Thoa vor ihrem kleinen Lampionladen nach. Ich soll bald wiederkommen.

Über Dokumente der Gemeinde Hoi An und mithilfe der Erinnerungen der ehemaligen OP-Schwester Khoa habe ich im August ermitteln können, dass Lien wohl noch lebt. Sie ist heute etwa 56 und soll mit zwei Kindern in ärmlichen Verhältnissen am Rande der Berge von Tam Ky wohnen, nur etwa 50 Kilometer von Hoi An entfernt. Das nächste Mal werde ich sie besuchen.

In lockerer Folge haben sich Abendblatt-Redakteure auf Zeitreise begeben und außergewöhnliche Dinge noch einmal erlebt. Wie hat sich die Welt unserer Kindheit und Jugend verändert? Oder sehen wir sie nur mit anderen, erwachseneren Augen?

Der Fotograf Jochen Voigt fühlte sich von der Reihe inspiriert, als er gerade aus Vietnam zurückkam, wo er nach dem Mädchen Lien gesucht hatte.

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