“50 Words For Snow“, das neue Album von Kate Bush, ist ein Wagnis, ein großer Wurf - und zum Dahinschmelzen, der durch den härtesten Winter trägt.

Hamburg. Wie Schneekristalle tanzen Pianoakkorde. Eine Knabenstimme erklimmt musikalische Gipfel. Eine Flocke klagt über eine laute Welt. Mahnt die Erdbewohner. "Ich will, dass ihr mich fangt". Kate Bushs 13-jähriger Sohn Albert McIntosh ist es, der da singt. Das Pianomotiv wiederholt sich. Schlagzeugtakte wehen herüber.

Lieder wie "Snowflake" fallen nicht vom Himmel. Sie können nur in Abgeschiedenheit reifen. Abseits der urbanen Hektik. Nicht jeder Popkünstler kann sich das erlauben.

Kate Bush kann das.

Sie kann auch einfach beschließen, ein Album aufzunehmen, auf dem der kürzeste Song sieben Minuten und der längste 13 Minuten dauert. "50 Words For Snow" heißt es. Ein Schneealbum also als erstes Lebenszeichen nach sechs Jahren Pause. Nach nur sechs Jahren. Für den Vorgänger "Aerial" hat sie ganze zehn gebraucht.

Passenderweise hatte die Plattenfirma die Listening-Session der natürlich streng geheimen Klänge ins Kaminzimmer des Stage Clubs verlegt. Denn hier gehört das Album hin. Ans lodernde Feuer, wo Gedanken der Innerlichkeit umherschweifen, während die Welt gefühlt bereits unter einer dicken Schneedecke ruht.

In dieses Album kann man sich einkuscheln wie in eine Wolldecke. Man muss es nicht verteufeln wie eines dieser kommerzschielenden Weihnachtsalben, denn das ist es nicht. Die Neuerfindung des Pop aus dem Geiste der Kälte ist es auch nicht, aber randvoll mit märchenhaften Geschichten. Vom geheimnisvollen "Lake Tahoe", an dessen Ufer der Geist einer verstorbenen Frau in einem viktorianischen Kleid spukt, die ihren Hund Schneeflocke ruft. Von einem Schneemann, dessen Eiscreme-Lippen sie im Zuge eines bizarren One-Night-Stands in "Misty" küsst.

Die Musik ist karg, aber warm instrumentiert. Die 53-Jährige haut melodramatisch in die Tasten, Bassist Danny Thompson setzt ein paar Akzente am Kontrabass, Steve Gadd bedient Besen und Schlagwerk mit äußerster Zurückhaltung, und Dan MacIntosh addiert ein paar Gitarrenakkorde dazu.

Kate Bushs noch immer fabelhaft uferlose Stimme dominiert alles. Akribisch untersucht sie den Schnee von allen Seiten und in allen Aggregatzuständen. Er kann ein Symbol sein für vieles. Für soziale Kälte, verpasste Liebe, bedrohte Wildnis.

Am Experimentellsten gelingt der Musikerin das in "50 Words For Snow". Schauspieler Stephen Fry ist hier genötigt, 50 verschiedene Synonyme für das weiße Gold zu finden. Von "Creaky-Creaky" über "Zhivagodamarbletash" bis zu "Boomerangablanca". Auch ein unaussprechliches Klingonisch ist darunter. Heraus kommt ein Gedicht von schönster Dada-Poesie, in dem Bush Frys wenig galant unterbricht und anmahnt, was noch fehlt.

Manches entgleitet ihr. Etwa wenn sie in "Wild Man" den Fußspuren im Schnee des Kangchenjunga Demon, auch Yeti genannt, durch den Himalaja folgt und dazu ein vielstimmiger Chor im Hintergrund dröhnt. Oder wenn sie mit Elton John zum vielleicht seltsamsten Duett des Pop zusammenfindet. In "Snowed In At Wheeler Street" wärmen beide in ihrer Erinnerung die perfekte Liebe auf, die wie jene der beiden Königskinder zwischen allerlei Weltmetropolen einfach nicht zueinanderfand.

Kate Bush kann sich diese spleenige Exzentrik leisten. Denn sie ist mit ihrer dem Mainstream so abgewandten Kunst seit gut 30 Jahren eine der erfolgreichsten Popmusikerinnen der britischen Insel. Die Karriere der Komponistin, Texterin und Produzentin ist ein einziger individueller Richtungswechsel. Sie vertonte eigene Gedichte und ließ sich von Klassikern der Literaturgeschichte genauso inspirieren wie von Horrorfilmen oder Woody Allen. Sie sang über Gott, über Missbrauch, Selbstmord, Geister oder Computerfreaks. Der exaltierte Gesangsstil wurde ihr Markenzeichen.

Musikalisch fand in ihrem Kosmos vieles Platz, Artrock, Alternative, Pop und Jazz. Auf "50 Words For Snow" hat sie diese Varianz zugunsten von sehr ausgewählten Jazzklängen zurückgefahren. Von den Gepflogenheiten des Pop unterwerfen ließ sie sich nie, seit sie 1975 ihr Debüt "The Kick Inside" veröffentlichte, unterstützt von ihrem Förderer, Pink Floyds David Gilmour.

Auf eine Live-Präsentation der Schnee-Lieder werden wir auch diesmal wieder vergeblich warten. 1979 bestritt sie ihre erste und bis heute einzige Europatournee. Das macht aber nichts. Dieses Album trägt auch so durch den härtesten Winter.

Kate Bush: "50 Words For Snow", EMI; www.katebush.com