Am Thalia-Theater ist der Irrsinn ausgebrochen: “Der Raub der Sabinerinnen“ gelingt als eine sensationelle Mischung aus Slapstick und Comic.

Hamburg. "Die Leute liegen vor Lachen unter dem Stuhl. Ich auch", schrieb der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr vor mehr als 100 Jahren, als er den Bühnenschwank "Der Raub der Sabinerinnen" sah. Lachen kann man heute noch gewaltig, wenn man das nicht totzukriegende Stück über eine Schmierentheatertruppe, einen eitlen Autor und seine spießig-durchgedrehte Familie auf der Bühne sieht. Doch dazu muss man in Theater gehen, in denen ausschließlich Schwänke, Lustspiele und Boulevardstücke auf den Spielplänen stehen. Willy Millowitsch und Gert Fröbe spielten so was, echte Volksschauspieler, die gern auch mal Knallchargen waren.

Nun hat auch das Thalia-Theater den "Raub der Sabinerinnen" im Programm, ob aus Kalkül nach einem vollen Haus oder aus Gründen der Spielplanmischung, die neben Tragischem wie "Macbeth" und "Faust" auch etwas Leichtes, Unkompliziertes präsentieren möchte, bleibt dabei egal. Denn diese Inszenierung ist der Hammer, jagt mit Karacho durch Kalauer und krasse Komik bis die Schauspieler erschöpft und die Zuschauer überrumpelt sind. Nix hehre Bühnenkunst oder intellektueller Tiefsinn. Hier ist der Irrsinn ausgebrochen, ganz real.

+++ Volldampfregisseur: Die Leute verrückt machen +++

Die Schauspieler tragen Haarhelme aus Plastik oder ausgestopfte Kleidung, sie springen, purzeln oder hüpfen über die Bühne. Man verrenkt, verläuft, verzettelt sich, macht Salto, Schlusssprung oder Spagat, rennt gegen Wände, wird von einem Papagei verfolgt oder lässt sich auf ein riesiges rotes Sofa katapultieren. Denn hinter dem Sofa steht ein Trampolin. So wird der Bürgersalon zur Gummizelle.

Mit Regisseur Herbert Fritsch hat man einen theatralisch genügend Durchgeknallten engagiert, der das gesamte Theater entfesselt und zum Brüllen bringt. Ist das noch Dada oder schon gaga? Fritsch, der lange Jahre Schauspieler war, der für seine Clownereien, seine hyperventilierende Groteskkunst gefeiert wurde, wenn er sich in "Pension Schöller" eine 50 Kilo schwere Pythonschlange um den Hals legte, zieht seit wenigen Jahren als Regiestar durch Deutschland und inszeniert an kleinen und zunehmend großen Häusern Klamauk und Klamotten voller schriller Gags. Ob man das nun mag oder degoutant findet, Herbert Fritsch ist der einzige Regisseur, der in den vergangenen ein, zwei Jahren eine völlig neue Theatersprache erfunden hat. Es ist eine Mischung aus Slapstick und Comic, künstlich, rasend schnell, anarchisch, haltlos übertrieben. Brachialkomik mit dem Holzhammer. Quatsch auf Droge. Die Schauspieler betreiben dabei Wort- und Körperakrobatik bis zur völligen Verausgabung.

"Beim Theater ist nichts unmöglich", sagt der durchreisende Theaterdirektor Striese im Stück. Genauso begreift es wohl auch Herbert Fritsch, wenn das Theater zum Ort des Exzesses, zur puren, sinnfreien Lebendigkeit wird. Das Schmierentheater Strieses, das mit dem wirtschaftlichen Überleben kämpfen muss, wird bei Fritsch von einer Frau geführt, die Karin Neuhäuser spielt. Als schwäbelnde Theaterdirektorin, die für ihre Bühne im Hause des Professors Gollwitz Werbung machen will und dabei ganz unverhofft auf ein hölzern missratenes Theaterstück über die Sabinerinnen trifft, das der Professor heimlich geschrieben hat, ist Neuhäuser furios - oder auf Schwäbisch "ein Furiösle", ein Vulkan an Dialektkomik. Sie will ihm das Stück abluchsen und aufführen. Er fürchtet die Blamage und will seine Urheberschaft verbergen. Vor allem vor seiner Frau. Am Ende rettet die Striesin die desaströse Aufführung, die heillos zerstrittene Familie und den Professor vor dem Selbstmord. Denn anders als im Slapstick, bei dem nicht eher Schluss ist, bis die schönste Zerstörung des bürgerlichen Heims beendet ist, siegt hier das Happy End.

Karin Neuhäuser ist der Star, inmitten eines glänzenden Ensembles. Sie schmeichelt und gurrt, sie leidet und fiebert, sie ist ganz große Tragödin und hintertriebene Komödiantin. Die schwäbisch schwätzende Striesin und die stolze Römertragödie, die sie dem Professor abschwatzt - schon dieser Gegensatz enthält genügend Komik für einen Abend. Und immer dann, wenn die Striesin pathetisch wird, wenn es um das Wahre in der Kunst geht, wenn sie Gollwitz (Matthias Leja) erklärt, dass die Schmiere ein Platz sei, "wo auf wenigen Quadratmetern mehr Hingebung verlangt wird, als Sie es sich in Ihrem bürgerlichen Leben überhaupt vorstellen können", erreicht Neuhäuser jene Erhabenheit, die große Komik vom Lächerlichen trennt.

Um sie herum ein putzig pralles, herrlich sächselndes Dienstmädchen Rosa, gespielt von Gabriela Maria Schmeide. Und der wahrhaft großartige Körperverbiegungskünstler Jörg Pohl als Schauspieler Emil Sterneck, der stummfilmartig mit den Augen rollende Rafael Stachowiak als Schwiegersohn Leopold - sowie die Professorengattin, die Viktoria Trauttmansdorf so schräg überdreht, mal krächzend und auch schon mal im Handstand spielt, dass man sich sogar über ihr verrutschtes Kostüm freut, das aus dem ausgestopften Hintern plötzlich einen schwangeren Bauch macht. Gollwitzens Papagei spielt Sebastian Zimmler als aufdringliches Federvieh, das "Sein oder Nichtsein" rülpsen kann. Marina Galic, Cathérine Seifert als Töchter und Hans Kremer als dröhniger Nussknacker-Berliner ergänzen das Ensemble.

Am herrlichsten gelungen ist die Theaterprobe zum Sabinerinnen-Stück. Die Schauspieler, maulig und verfressen, lassen sich nur bändigen, wenn strenge Zucht zum Einsatz kommt, ähnlich der, wie sie Regisseur Einar Schleef einforderte. Ja, man macht Insiderwitze über das Burgtheater oder Schauspieler-Aberglauben, man erklärt, dass man hier "ohne Video" inszenieren würde, und man wird gelegentlich zu lang. So viel Gehüpfe ermüdet irgendwann auch die Zuschauer. Aber verständlich bleibt der Abend für alle. Gute Laune stellt sich dann ganz von selbst ein. Schließlich wird auf der Bühne "Veuve Glykol" getrunken.

In den Vorstellungen am 22. und 29.11. wird Herbert Fritsch die Rolle Jörg Pohls übernehmen, der sich am Premierenabend den Fuß gebrochen hat.

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