Ein schwedischer Schriftsteller entdeckt auf dem Dachboden 32 vergilbte Postkarten aus Hamburg. Und begab sich auf bewegende Spurensuche.

Hamburg. "Wenn ich ihm die falschen Fragen stellte, wurde er wütend. Aber was waren falsche und was richtige Fragen?" Torkel Wächter schaut ernst, in seinem Gesicht liegen viele Fragen. "Ich wusste es nicht, denn er hatte mir seine Geschichte nie erzählt."

Er, das ist Torkel Wächters Vater.

Wir sitzen in der Lobby eines Hotels an der Alster, ein paar Tische weiter spielen Wächters Kinder Felicia, 9, und Gabriel, 6, mit dem iPhone ihres Vaters. In den vergangenen Tagen hat er ihnen Hamburg gezeigt und dabei erzählt, dass ihre Familie aus dieser deutschen Stadt stammt. Er hat Namen genannt, die seinen Kindern inzwischen vertraut sind, obwohl sie weder ihren Großvater Walter, noch die Urgroßeltern Minna und Gustav kennengelernt haben. Doch die Kinder sollen wissen, wo und wie sie gelebt haben. Die Geschichte der Wächters ist mit der Schoah nicht zu Ende gegangen. "Sie geht weiter mit dem hebräischen Wort Zachor, der Ermahnung, sich zu erinnern, das in der hebräischen Bibel 169-mal vorkommt", sagt Wächter. "Zachor weist nicht in die Vergangenheit, sondern in Gegenwart und Zukunft." Er selbst ist der Geschichte seiner Familie erst vor ein paar Jahren auf die Spur gekommen. Und alles begann mit einem Karton auf dem Dachboden seines Elternhauses in Stockholm: gefüllt mit Fotografien, vergilbten Dokumenten, Aufzeichnungen, Briefen - und 32 eng beschriebenen Postkarten.

"Ich wusste, dass mein Vater in Hamburg geboren und aufgewachsen war und als Jude aus Deutschland fliehen musste. Und ich wusste, dass meine Großeltern deportiert und ermordet wurden, aber das war auch alles. Mein Vater wollte nicht darüber sprechen - nicht über die Schoah, nicht über Deutschland und auch nicht über Hamburg", sagt Wächter.

Und dabei blieb es, bis Wächters Vater 1983 starb. Sein Sohn Torkel arbeitete damals als Pilot bei der Fluggesellschaft SAS, und erst als er nach 1999 beschloss, Schriftsteller zu werden, fand er Zeit, sich um den schriftlichen Nachlass des Vaters zu kümmern. Dabei entdeckte er die 32 Postkarten. Allerdings sprach er kein Deutsch, die Sütterlinschrift auf den Postkarten verstand er nicht. Nur eines war ihm sofort bewusst: dass er in diesen verstaubten und jahrzehntelang unbeachteten Kartons den Schlüssel zu seiner Familiengeschichte gefunden hatte.

"Im Jahr 2000 wurde mein erstes Kind, unser Sohn Jonatan, geboren. Ihm wollte ich die Geschichte unserer Herkunft erzählen", sagt Wächter, der damals seine umfangreichen Recherchen begann. Er erlernte die deutsche Sprache, die er inzwischen nahezu perfekt beherrscht, besuchte die Schauplätze in Hamburg, befragte Zeitzeugen und Historiker. Er ließ sich von Hamburger Rentnern die Sütterlinschrift transkribieren, die er inzwischen selbst lesen kann. So fügte er Mosaikstein an Mosaikstein zu einer Familiengeschichte zusammen, die damit begann, dass sich ein Jude namens Tobias Elias im Jahr 1783 in Hamburg niederließ.

Er war Mitglied der jüdischen Bestattungsgesellschaft Chewra Kadischa, deren Angehörige die Totenwache bei Gemeindemitgliedern hielten. Daher nannte man ihn Tobias Wacherle, bis das jiddische Wort zum hochdeutschen Wächter wurde.

Mehr als anderthalb Jahrhunderte lebten Tobias Wächters Nachfahren in Hamburg. Gustav Wächter, der am 24. Oktober 1875 als Sohn eines deutsch-jüdischen Kaufmanns in der Hansestadt geboren wurde, schlug die Beamtenlaufbahn ein, 1901 heiratete er die sechs Jahre jüngere Minna Sonnenberg, die einer jüdischen Familie mit iberischen Wurzeln entstammte. Das Paar hatte drei Söhne: John (geb. 1902), Max (1904) und Walter (1913). Die Familie war assimiliert, ohne ihren jüdischen Glauben aufzugeben. Walter Wächter spielte in den 20er-Jahren in der Juniorenmannschaft des HSV. Vater Gustav, der sich als "Deutscher Staatsbürger mosaischen Glaubens" verstand, hatte ein fast unerschütterliches Vertrauen in die deutsche Gesellschaft. Und daran hielt er auch fest, als sich die Zeiten änderten, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und alle wirklichen und vermeintlichen Gegner mit beispielloser Gewalt verfolgten.

Dass er in den Augen der braunen Machthaber auf einmal nicht mehr der verlässliche deutsche Beamte sein sollte, sondern der Jude, der rechtlos war, konnte Gustav weder verstehen noch akzeptieren. Er verlor seine Arbeit, wurde zwangspensioniert, die Söhne John und Walter, die als Sozialdemokraten politisch aktiv waren, kamen längere Zeit in Haft. Sie konnten aber - ebenso wie der mittlere Sohn Max - in letzter Minute emigrieren.

John und Max Wächter gelangten nach Südamerika, Walter floh durch halb Europa und kam dank der Unterstützung einer zionistischen Organisation schließlich nach Schweden. Eigentlich wartete er hier auf die Ausreisegenehmigung nach Palästina, doch da die britische Mandatsmacht die nötigen Papiere jahrelang nicht ausstellte, blieb er in Stockholm. Er heiratete eine Schwedin und gründete eine Familie. Walter Wächter nannte sich nun Michael - und wurde selbst Vater eines Sohnes: 1961 wurde Torkel Wächter in Stockholm geboren.

Fast 40 Jahre sollte es dauern, bis er die Geschichte seiner eigenen Familie herausfinden sollte. Der Schlüssel dazu waren jene 32 Postkarten, die der Vater im Zeitraum vom 29. März 1940 bis zum 6. Dezember 1941 von Familienangehörigen aus Hamburg, vor allem von seinen Eltern Minna und Gustav, erhalten hatte. Postkarten sind keine Briefe, sie dürfen keine Geheimnisse bergen, denn jeder kann sie lesen. Und diese Postkarten wurden tatsächlich nicht nur vom Adressaten gelesen, sondern auch von gewissenhaften Beamten der NS-Postzensur, die ihre Arbeit jeweils mit einem roten Stempel beglaubigten.

"Man muss buchstäblich zwischen den Zeilen lesen, muss Anspielungen verstehen, die so vorsichtig formuliert waren, dass der Zensurbeamte nicht argwöhnisch werden konnte", sagt Torkel Wächter, der die 32 letzten Lebenszeugnisse seiner Großeltern nicht nur gelesen, sondern regelrecht studiert hat. Anhand dieser Postkarten hat er die letzten anderthalb Lebensjahre von Gustav und Minna rekonstruiert, hat die Mitteilungen in ihren jeweiligen zeitlichen Kontext, in Beziehung zu den politischen und familiären Ereignissen gesetzt.

Was war das für ein Leben, das dieses Hamburger Ehepaar damals führen musste? Als die Familie noch in einer gutbürgerlichen Wohnung im Eppendorfer Weg 40 lebte, hatte man regelmäßig zu Salons mit Hausmusik und kleinen Theatervorstellungen geladen. Doch die "Lustigen Abende bei den Wächtern der Fröhlichkeit" waren 1940 nur eine fast unwirkliche Erinnerung. Als die Kinder noch klein waren und die Familie sonntags in Eimsbüttel spazieren ging, hatte der Vater stets eine Tafel Schokolade gekauft, die er mit geradezu ritueller Geste in fünf gleiche Stücke zerbrach, um sie danach zu verteilen.

Nun saßen Gustav und Minna in einer kleinen Wohnung im Scheideweg 35 in Eimsbüttel und warteten voller Sehnsucht und Angst auf Lebenszeichen ihrer Söhne aus dem Ausland.

Wie es ihnen und den in Hamburg zurückgebliebenen Verwandten und Freunden ging, konnten sie ihren Söhnen nur verschlüsselt mitteilen. So schrieb Gustav am 20. April 1940 an Walter: "Heute Nachmittag sind wir bei Blumenthals eingeladen u. morgen kommt Familie Prall zu uns. Er war ja infolge einer Verstauchung des linken Armes 6 Wochen arbeitsunfähig."

Wie zog man sich eine solche Verstauchung zu? Walter ahnte, dass "Herr Pralls verstauchter Arm das Ergebnis einer Vernehmung durch die Gestapo oder einer Begegnung mit Nazis an einem dunklen Abend war".

Und Minna schrieb am 4. Mai 1940: "Vor allen Dingen wünsche ich Euch recht angenehme Pfingsten. Hoffentlich sind Walters Zähne bald wieder in Ordnung." Sie wusste, dass Walter während seiner Haftzeit im KZ Fuhlsbüttel im Sommer 1935 die Zähne eingeschlagen worden waren.

Keine Bemerkung zum Krieg, nichts über die täglichen Schikanen, keine Wort über die Angst vor der Deportation, sondern Alltägliches: Berichte über einen Film, den das Paar im Gebäude des Jüdischen Kulturbundes, den heutigen Kammerspielen an der Hartungstraße, gesehen hat, über die Lektüre des Margaret-Mitchell-Bestsellers "Vom Winde verweht" - oder über Kater Heinerle, der gern schnurrend auf dem Schreibtisch lag und dem es gut ging. "Neues gibt es hier nicht. Gruß und Kuss", beendete Minna eine Karte. Ein andermal unterschrieb sie gar nicht - was Walter in größte Sorge versetzte. Wichtig waren Mitteilungen über das Schicksal von Verwandten und Freunden, die entweder in Hamburg oder im Ausland lebten. Bei der Lektüre gewinnt man den Eindruck, dass sich Minna und Walter bis zuletzt darum bemühten, die Familie und den Freundeskreis zusammenzuhalten - ein tapferer, aber aussichtsloser Versuch.

Minna und Walter waren längs tot, als ihr Enkel Torkel die Postkarten lesen konnte, mit denen sie ihre letzten Lebenszeichen gaben. Er hat sie postum kennengelernt. Nun gibt er ihnen ihre Stimme zurück - mit der Hilfe eines Mediums, das sie sich niemals hätten vorstellen können: Vor anderthalb Jahren startete Torkel S. Wächter seine Aktion "32 Postkarten.com". Seither stellt er diese erschütternden Familiendokumente Stück für Stück jeweils an dem Tag ins Internet, an dem sie 70 Jahre zuvor geschrieben und abgeschickt worden sind: vom 29. März 1940 bis zum 6. Dezember 1941.

Mit diesem Datum bricht die Korrespondenz ab. Es war der Tag, an dem Minna und Gustav Wächter nach Riga deportiert wurden. Ist ihre Geschichte damit vorbei? Torkel Wächter schüttelt den Kopf: "Nein, ich lebe und meine vier Kinder leben", sagt er und sieht hinüber zu Felicia und Gabriel, die noch immer mit dem iPhone ihres Vaters spielen. "Sie haben Minnas Augen und Gustavs Optimismus geerbt, und sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft zurückerhalten, die ihren Vorfahren genommen wurde. Wenn wir auf dem Weg zur deutschen Schule in Stockholm gehen, sprechen wir oft über meine Großeltern. Und heute habe ich Felicia und Gabriel deren Heimatstadt gezeigt."

Die Postkarten und zahlreiche Fotos aus den 20er- und 30er-Jahren in Hamburg finden sich unter der Internetadresse www.32postkarten.com .