Wenn Ulrich Matthes über den deutschen Dramatiker spricht, möchte man direkt ins Theater rennen. Gut, dass er bald ans Thalia kommt.

Berlin. "Es ist, wie wenn er nachsehen möchte, wie viel ein Mensch aushalten kann, ob er, wenn er ihn durch alle Abgründe geschleift hat, noch ein inneres Leben aufweist", hat die Dichterin Marie-Luise Fleißer über Heinrich von Kleists Figuren gesagt. Kleist, dessen 200. Todestag sich am 21. November jährt und dessen Stücke "Amphitryon", "Das Käthchen von Heilbronn", "Penthesilea" oder "Prinz Friedrich von Homburg" noch heute oft gespielt werden, ist vielen Menschen der große Unbekannte. Keine Reliquien sind erhalten, kein Tintenfass, keine Weste, keine Locke. Kleists Genie, in schockierender Klarheit und wortmächtigen Bildern, ist allein in der Literatur aufzufinden. Eine eigene Welt, die den, der sich darauf einlässt, verwandelt: erleuchtet, aufwühlt, berauscht - je nach Empfänglichkeit.

Wer Kleist näher kennenlernen will, kann sich vom Feuer Ulrich Matthes' anstecken lassen. Mit seinem Kleist-Abend "Geschichte einer Seele" ist der Ausnahmeschauspieler schon quer durch Deutschland und nach Zürich, Basel, Wien und Paris getourt. Nun kommt Matthes im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zum Kleist-Jahr auch nach Hamburg, ans Thalia-Theater. Und er erzählt so lebhaft, so glühend von Kleist, dass man sofort ins Theater sausen möchte, um ihm zuzuhören - wie er die Briefe Kleists, dessen Gedanken, Leidenschaften und Empfindungen gestaltet.

Schließlich ist der Name Ulrich Matthes ein Garant für aufregendes, packendes Theater, für jemanden, der emotional und körperlich viel investiert. Nie ist es lauwarm, wenn Matthes auf der Bühne steht. Er verlässt sich auf seine Intuition, "meine Instinkte, meinen Bauch. Musikalität, Reaktionsfähigkeit, Einfühlsamkeit sind viel wichtigere Eigenschaften für einen Schauspieler als Intellektualität", erklärt er. Und ist doch ein sehr intelligenter, nachdenklicher Schauspieler. Schon mehrfach wurde Matthes als "Schauspieler des Jahres" ausgezeichnet.

"Ein Stück von Kleist zu lesen ist für mich ein ähnlich sinnliches Vergnügen wie Spaghetti arrabiata zu essen", sagt Ulrich Matthes. Vielleicht, weil ihn Extreme reizen, vielleicht aber auch, weil eine der ersten Rollen des Berliners, der seit vielen Jahren zu den Theaterstars der Hauptstadt zählt, der Prinz von Homburg war. In Krefeld. Anfang der 90er-Jahre ist die "Geschichte einer Seele" bereits entstanden. Der Chefdramaturg von Claus Peymann, Hermann Beil, hatte damals für Matthes aus mehr als 250 Briefen Kleists diesen Abend für das Wiener Burgtheater eingerichtet. Nur - Matthes ist nie ans Burgtheater gegangen.

Er entschied sich damals für die Berliner Schaubühne. Das Manuskript mit den Kleist-Briefen lag dann herum und hat ihn wahrscheinlich vorwurfsvoll angeschaut. Ohne Regisseur und Kollegen hat Matthes sich dann über den Text hergemacht, "einsam in Klausur". Als der Abend herauskam, war's ein riesiger Erfolg. "Die Briefe sind voller Energie, die sich nach innen entlädt. Kleist erscheint maßlos rational und maßlos emotional. Zwei Stunden knistert es auf der Bühne, raschelt und rauscht mit dem Papier die Seele zu Boden", hieß es in einer Kritik. Knapp zwei Stunden dauert der Abend, den Matthes auswendig kann. Was er da spielt, ist "wie ein Lebensmonolog. Wenn ich es 'Lesung' nenne, denken die Zuschauer: Ach, da kommt ein gepflegter Mensch auf die Bühne, mit Stuhl, Tisch und Lesebrille, der liest dann los. Weit gefehlt. Das ist ein Theaterabend. Ich spiele und empfinde Kleist. Ich lese nicht. Es ist wie ein Kurzschalten zu diesem absolut zeitgenössischen Dichter, zu dem ich einen Kontakt herstellen möchte."

Im Unterschied zu manchem Stück kann er den Text stets frisch reproduzieren. "Obwohl es sich um Briefe handelt, sind sie so gestisch geschrieben, dass ich das wie eine Selbstbefragung spielen kann", sagt Matthes. Thema der Selbstbefragung ist unter anderem, wie ein Individuum sich der Gesellschaft anschließen kann. "Kleist scheitert immer wieder. Mit jedem Versuch, der misslingt, startet er einen neuen. Kleist entwirft sich ständig neu. Er wird aber immer wieder von der Gesellschaft zurückgestoßen. Versucht es dann aufs Neue." Sich in einer Gesellschaft zu behaupten, die einen ständig zurückweist, das hält Matthes für ein sehr modernes Thema. Zumal Kleists Sprache so luzide ist, gerade wenn sie große Gefühle beschreibt. "Ich habe den Abend schon mehr als hundertmal gespielt", sagt er, "aber ich bin danach jedes Mal wieder fix und fertig, so sehr packt mich der Text. Obwohl ich eigentlich keiner dieser Schwitz- und Spermaschauspieler bin, die sich komplett identifizieren mit dem, was sie spielen."

Kleists Briefe behandeln Themen, die uns heute so betreffen wie ihn damals: Er ist verliebt, er entliebt sich. Er sucht eine Anstellung und findet keine. Er fragt sich, ob sein Selbstbewusstsein überzogen oder berechtigt ist. Er fragt sich, was er mit seinem Leben anfangen soll. Ob er politisch aktiv werden oder sich nur seiner Kunst widmen soll. "Aus diesen verzweifelten Widersprüchlichkeiten ist unser aller Leben zusammengesetzt. An diesen aneinander reißenden Polen hängt jeder halbwegs sensible Mensch", sagt Ulrich Matthes und strahlt dabei. "Kleist drückt auf direkte, überraschend einfache Weise eine Sehnsucht aus, die wir alle empfinden. Das ist auch mal lustig, auf jeden Fall aber bewegend."

Ach, möchte man mit dem berühmten Schlusswort aus Kleists "Amphitryon" antworten, warum ist man nicht schon längst in diesem Abend gewesen. Nun aber nichts wie hin.

Geschichte einer Seele. Ein Abend zu den Briefen Heinrich von Kleists mit Ulrich Matthes, Thalia-Theater, 17.11., 20 Uhr. Weitere Veranstaltungen zu Kleist ab 10.11. unter www.thalia-theater.de