Eine große Solidaritätsaktion unterstützt den regimekritischen Künstler, der wegen angeblicher Steuerhinterziehung verurteilt wurde.

Peking. Im Pekinger Atelier von Ai Weiwei geht es zu wie in einer Bankfiliale. Über Online-Zahlungssysteme gehen Geldanweisungen ein, werden von Helfern in Quittungsblocks kopiert. Die Post liefert Zahlungsabschnitte an. Der weltbekannte Konzeptkünstler sitzt am Tisch und signiert nicht etwa seine Werke, sondern bündelweise Schuldscheine. Er schüttelt verwundert immer wieder seinen Kopf.: "Hier, diese Zahlung kam heute Nacht über Internet. In der Betreffzeile steht: Ich kaufe mir keine Schuhe. Ich kaufe Dich frei, weil Du etwas für uns getan hast."

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Eine Flut privater Geldüberweisungen aus allen Teilen Chinas schwappt seit Freitag früh in das Haus des 54-Jährigen. Es ist ein bewusster Akt der Solidarität mit einem offiziell Geächteten, einem, über den keine chinesische Zeitung berichten darf. Einige Besucher, die Ai Weiwei nicht einmal kennt, kommen direkt zu ihm ins Künstlerviertel Cao Changdi, ohne sich darum zu sorgen, dass sie von Polizeikameras an der Straße gefilmt werden. Junge Chinesen gehen am Atelier vorbei und werfen Geldscheine über die Mauer. Ai Weiweis Frau Lu Qing findet im Vorgarten gelandetes Papiergeld - insgesamt 610 Yuan (70 Euro). Über jeden Geldeingang wird genau Buch geführt. Bis Sonntagmittag haben die Helfer 13 610 Überweisungen vor allem aus China, aber auch aus dem Ausland verbucht. Zusammen addieren sie sich auf 2,8 Millionen Yuan (mehr als 300 000 Euro). "Ich hätte nie geglaubt " sagt Ai Weiwei, "dass so viele wildfremde Leute in China mit ihrem Geld für mich Stellung beziehen."

Es ist die erste große und auch noch spontane, rein chinesische Solidarisierungsaktion mit dem verfolgten Künstler. Zu ihrem Auslöser wurde ein drakonisches Bußgeld von 15,22 Millionen Yuan (rund 1,8 Millionen Euro). Der am 1. November ausgestellte Strafbescheid richtet sich formell gegen die von Ais Frau Lu Qing geführte Fake GmbH , eine Vermarktungsagentur für Ais Gesamtwerk. Fake soll die Millionensumme bis zum 16. November zahlen, sonst riskieren ihre Verantwortlichen bis zu sieben Jahre Haft wegen Widerstands gegen Steuerzahlungen. Besonders absurd: Erst nachdem Fake die Strafe beglichen hat, können die Anwälte im Nachhinein gegen die umstrittene Steuer Einspruch einlegen. Ais Freunde unterstellen ein abgekartetes Spiel von Steuerbehörden und Polizei. Eine sofort zu zahlende Strafe soll dem oppositionellen Künstler den Boden unter den Füßen wegziehen. 81 Tage in polizeilicher Isolationshaft, in die er am 3. April verschleppt wurde, konnten ihn nicht mürbe machen. Seine Entlassung auf Kaution mit Rede- und Reiseverbot brachte ihn nicht zum Schweigen. Um die Steuer zu bezahlen aber hätte er wohl Haus und Atelier verkaufen müssen.

Doch es kommt plötzlich ganz anders. Obwohl Chinas offizielle Medien nichts über Pekings rechtsbeugenden Umgang mit Ai berichtet haben, wissen dank Internet Millionen bestens Bescheid und beginnen zu spenden. Um nicht wegen illegaler Geldsammlung belangt zu werden, schrieb Ai Weiwei in seinem Mikroblog, dass er keine Spenden annehmen werde. Er könne sich nur Geld ausleihen. "Wir geben bis auf den Fen alles zurück und Schuldscheine aus." Ai ließ die Kontonummer von Fake veröffentlichen. Keine 48 Stunden später waren über Postanweisungen, Bank oder Internet-Dienste wie Alipay und PayPal umgerechnet die ersten 100 000 Euro eingegangen. Im Internet kursiere ein Witz dazu, sagt Ai. Junge Chinesen begrüßten sich nicht mehr mit der üblichen Formel für "Guten Tag", sondern jetzt mit der Frage: "Wie viel schuldet Ai Weiwei dir?"

Eigentlich braucht der für seine Mitarbeit am Design des Pekinger Olympiastadiums "Vogelnest" in China und mit seinen Werkschauen weltweit berühmt gewordene Avantgarde-Künstler das Geld gar nicht. Viele Freunde hätten ihm vorher schon finanzielle Hilfe offeriert, sagt er. Auch seine Mutter und sein Bruder boten der Steuer ihr Privathaus als Pfand an, damit Ai das Bußgeld zahlen kann. Aber er versteht die Aktion von Tausenden als Zeichen der Solidarität mit ihm. "Selbst wenn sie mir nur einen Fen leihen, geben sie damit ein Statement ihrer Anteilnahme ab."

Der zivile Ungehorsam gegen die staatliche Willkür ist für Ai Weiwei eine späte Genugtuung. Als er in Beugehaft der Polizei saß, sagten ihm seine Peiniger bei den Verhören immer wieder, sie würden ihn mit Gerüchten und Vorwürfen, er sei nur ein billiger Steuerbetrüger, das "Gesicht verlieren lassen". Jetzt sitzen sie durch diese Solidarisierung selbst auf der Anklagebank der öffentlichen Meinung. Ai gesteht ein, dass er von der Wendung der Dinge überrascht wurde. Blogger schreiben, dass Ai Weiwei mit seiner Documenta-Aktion, 1001 Chinesen nach Kassel zu bringen, 2007 ein Globalisierungs-Märchen schrieb. "Nun inszenieren wir ein zweites Märchen - diesmal für ihn."