Noch mal in einer Unterstufen-Klasse sitzen und Texte über römische Krieger übersetzen? Das ist nach 44 Jahren ein großes Wagnis.

Hamburg. Beim Eintreten schallt uns ein vielstimmiges "Salve, magistra" entgegen. Was für eine höfliche Klasse! Aber die Magistra, Lehrerin Bettina Zurawski, ist noch nicht zufrieden. Es seien doch zwei Besucher gekommen: "Also muss es wie heißen?" Die Antwort kommt ein bisschen durcheinander: "Salvete, hospites", seid gegrüßt, Gäste. Der Römer grüßte nach Zahl - das wusste ich gar nicht mehr.

Meine alte Schule riecht noch genauso wie früher. Nach feuchten Klamotten, Turnschuhen und Reinigungsmittel, darüber liegt ein Hauch dieses typischen Schul-Gummi-Miefs, woher auch immer. Vor 40 Jahren war die Heilwig-Schule in Alsterdorf allerdings noch ein Mädchengymnasium. Heute sitzen etwa gleich viele Jungen und Mädchen im Raum A6, insgesamt 19 Siebtklässler. Ich werde neben Maja und Lucia platziert, Fotograf Andreas Laible geht neben der Tafel in Stellung. Es ist acht Uhr morgens. Vor uns liegt eine Doppelstunde Latein. Und ich bin gespannt, was bei mir noch hängen geblieben ist.

Zuerst die Hausaufgabenkontrolle. An der Tafel steht: rex, Genitiv: regis; regnum, regnare. König, Herrschaft, herrschen, schreibt Frau Zurawski dahinter. Der Wortstamm? In diesem Fall bei allen Wörtern reg. Schön, das hätte ich noch gewusst. Aber der Hausaufgabenzettel hat es in sich: lauter Verben, von denen die Schüler daheim Präsens, Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt bilden sollten.

Exponere , darlegen. Er legt dar, er legte dar, er hat dargelegt, er hatte dargelegt - exponit, exponebat ... "Exponerit?" , schlägt einer vor. Nein. Auf exposuit wäre ich nie gekommen.

Als ich mit Latein begann, war ich überrascht, dass es da nicht nur vier, sondern sechs Fälle gab. Den Vokativ zum Beispiel: Mensa! - O Tisch! (für den Fall, dass Römer mit ihren Möbeln sprachen). Und den Ablativ, in der lateinischen Grammatik eine Art Allzweckwaffe. Unsere Lehrerin Frau Stölzel - klein, drahtig, streng - fragte in jeder Stunde: "Wer macht denn jetzt ein Angebot?", und wir gingen in Deckung. Einen Absatz aus dem Lateinbuch flüssig vorlesen oder gar übersetzen, das schaffte in der Unterstufe kaum eine. Woraufhin Frau Stölzel mit Stentorstimme rief: "Das ist ja un-glaub-lich!" Stentor hieß ein Kämpfer im Trojanischen Krieg, der lauter schreien konnte als 50 Männer zusammen. Das passte.

Meine Eltern fanden Latein wichtig. "Dann kannst du später mal antike Grabinschriften lesen", sagte mein Vater. Das ist in den Augen einer Elfjährigen nicht gerade der Knaller. In meinem späteren Leben hielt sich die Lektüre antiker Grabinschriften auch sehr in Grenzen. Aber Kenntnisse erwiesen sich als hilfreich, weil Latein im Alltag überall präsent ist, von Oratorium bis Domina. Nur dass es außer dem Papst keiner spricht.

Auch heute legen viele Eltern Wert darauf, dass ihre Kinder die alte Sprache lernen, erzählt Bettina Zurawski. Das wirkt sich aus, wenn ab Klasse sechs am Heilwig-Gymnasium gewählt werden kann: 50 bis 60 Prozent der Schüler entscheiden sich für Französisch, aber immer noch 40 bis 50 Prozent für Latein, "und das ist eine ziemlich stabile Quote", sagt sie. Allerdings befürchtet sie, dass die Profiloberstufe "die zweite Fremdsprache auf Dauer kaputt macht". Für Latein gebe es in Hamburg dann nur noch "ganz wenige Orchideenkurse" in der Oberstufe.

Jetzt steht vor der Pause noch eine Vokabelarbeit an. "Schreibt die Frau vom Abendblatt die auch mit?", will ein Junge wissen. Klar, sage ich todesmutig. Zwölf Vokabeln stehen auf dem Testzettel, bei einigen sollen auch Genitiv, Geschlecht bzw. Stammformen angegeben werden. "Silentium!", sagt Frau Zurawski bestimmt. Über die Klasse breitet sich nervöse Stille.

Scribere heißt schreiben. Pax ist Frieden, Genitiv pacis ? Und hostis ? Mir fällt der Sci-Fi-Thriller "The Host" ein. Also "die Gastgeber"? Ich schiele (wirklich nur ganz kurz!) auf Majas Zettel, man will sich hier ja nicht blamieren. Aber Maja schirmt ihr Papier ab wie eine Wagenburg. Da wäre jetzt der "Stowasser" willkommen, das lateinisch-deutsche Schulwörterbuch, dessen Name sich in die Gehirnwindungen ganzer Generationen geschraubt hat.

Bei dem Wort quamquam gebe ich auf. Die Römer hatten eine Vorliebe für Wörter wie cumque oder quidque oder quamquam . Weshalb ich sie ständig verwechselte. Jetzt klingelt es zur Pause. Resignierend gebe ich den Zettel ab.

Genau genommen erinnere ich mich an meinen Lateinunterricht nicht sehr genau. Vor allem bedauerte ich, dass meine Freundinnen Cora und Anja und ich - das Trio infernal - meistens weit auseinander gesetzt wurden. Wir mussten uns also viele kleine Zettelchen schreiben und heimlich durch die Reihen schleusen. Irene an Gisela an Valerie an Jutta an Cora: "Du hast einen Kulifleck auf dem Pulli." Wenn Frau Stölzel etwas merkte, dann meistens wegen Jutta. Die war in Sport ein Ass, aber sie machte beim Zettelschmuggeln immer ein auffälliges Gesicht (sorry, Jutta!). Wenn sich Frau Stölzels Blicke in die Klasse bohrten, blieben sie unweigerlich an Juttas rosig erhitzten Backen hängen, und die Kette war erst mal unterbrochen.

Nach der Pause schlagen die Schüler ihre Lateinbücher "Lumina" auf. "Wer hat denn das da hingeschrieben?", fragt plötzlich ein Junge vor mir. An der Tafel hat sich das Wort "herrschen" auf wundersame Weise in "ärrsche" verwandelt. Frau Zurawski schweigt diplomatisch. Passiert ist passiert. Jetzt geht es um den Trojanischen Krieg, einen Auszug aus der "Ilias": De equo troiano .

Ulixes (Odysseus), Menelaos und Idomeneus sind, verborgen im Bauch eines riesigen hölzernen Pferdes, ins feindliche Troja eingedrungen und belauschen dort die Feinde, die siegestrunken feiern: Audite! Troiani cantant! (Hört! Die Trojaner singen!). Dolus bene successit (Die List ist gut gelungen). Keiner der Trojaner kam offenbar auf die Idee zu fragen: Sportsfreunde, was macht denn plötzlich dieses dicke Holzpferd hier? Gegen Odysseus waren offenbar sogar Bundestrojaner Waisenknaben.

Die Schilderung im Buch ist aufbereitet wie ein Drehbuch. Während die drei Helden in ihrem Versteck sitzen, nähert sich die Seherin Cassandra, die mit ihrer ständigen Schwarzmalerei allen gehörig auf die Nerven geht, und warnt die Trojaner vor dem Holzpferd. Erfolglos - Cassandra hinkend ab. Schon kommt die nächste Frau, Helena, die leise an den Pferdebauch klopft: Menelae carissime! Mecum veni! (Liebster Menelaos! Komm mit mir!) Schnell hält Ulixes dem Freund die Hand vor den Mund. Menelaos: "Hmmm! Hmmm!" Helena weinend ab.

Hmmm! Hmmm! Das steht natürlich so nicht in der "Ilias". Aber so könnte es gewesen sein. Die Schüler arbeiten konzentriert mit, auch wenn sie nicht alles verstehen.

So wurde Latein damals nicht vermittelt. Stattdessen pflügten wir mühselig durch "De bello gallico". Behalten habe ich nichts. Im aktuellen Hamburger Bildungsplan für die Alten Sprachen steht, dass die Schüler in Klasse 7 und 8 "Kompetenzen in den Bereichen Sprache, Texte, Kultur" erwerben sollen. Sie sollen nicht nur "einzelne Sinnsegmente oder zusammengehörige Wortgruppen" erfassen, sondern auch etwas über Leben und Kultur der Römer lernen. Haben wir damals etwas über den Alltag der Römer gelernt? Meine Freundin Cora, die heute in Hessen lebt, erinnert sich vage an das Wort agricola (Bauer) und meint, wir hätten über römische Landgüter gesprochen. Die meisten Lateinlehrer legten damals den Schwerpunkt auf Grammatik und nutzten antike Epen nur als Übersetzungsvorlagen.

Ich war ein Ponymädchen. Ich hätte mich brennend dafür interessiert, ob die Römer Pferde hatten. Gaben sie ihnen Namen? Benutzten sie Sättel? Oder ritten sie ohne Sattel? Welche Spiele spielten sie? Sprachen sie Slang wie "Ich mach mich jetzt auf die Socken"? Wahrscheinlich hatten sie gar keine Socken, die Römer, und wurden deshalb später im kalten Teutoburger Wald von Wie-hieß-er-noch besiegt.

In dem modernen Lateinbuch "Lumina" sind, anders als in unserem früher, viele Bilder. Zum Beispiel von alten Mosaiken der Piazza Armerina auf Sizilien, die römische Sportlerinnen in - ungelogen - Bikinis zeigen. Das war in der Antike hoch umstritten: "Junge Frauen sollten nicht trainieren", befand ein Zeitgenosse. Frau Zurawskis Latein-Klassen fangen mit Tier-Fabeln an. Eine 8. Klasse hat eine lateinische Komödie geschrieben und sie im Juni beim Sprachenfest 2011 in Magdeburg vorgestellt, in selbst entworfenen Kostümen. Allmählich erkenne ich, dass Latein - einfach so - Spaß machen kann. "Macht euch Latein Spaß?", frage ich meine Sitznachbarinnen. Beide sagen Ja. "Da hat man immer was zum Knobeln", findet Lucia.

Zum Abschluss werden die Vokabeltests zurückgegeben. Frau Zurawski hat mir charmanterweise eine Drei gegeben. Zwar habe ich bei den Genitiven arg geschwächelt, aber ich habe acht von zwölf Vokabeln gewusst. Frau Stölzel würde das als "mittelprächtiges Angebot" bezeichnen.

In lockerer Folge begeben sich Abendblatt-Redakteure auf "Zeitreise" und erleben außergewöhnliche Dinge noch einmal. Wie hat sich die Welt unserer Kindheit und Jugend verändert - oder sehen wir sie nur mit anderen, erwachseneren Augen?

Diesen Teil der Reihe hat Irene Jung geschrieben. Die Abendblatt-Redakteurin tummelte sich wieder in einer Lateinklasse im Heilwig-Gymnasium.

In den nächsten Folgen besuchen Abendblatt-Reporter noch einmal frühere Erlebnisorte.

Alle bisherigen Folgen finden Sie auch im Internet unter abendblatt.de/zeitreise