Alice Buddeberg komprimiert bei ihrem Regiedebüt entschlossen Anton Tschechows Künstlerdrama “Die Möwe“ im Schauspielhaus.

Hamburg. Keine Aussicht, kein Horizont, nur Herumhocken im Stroh. Cora Saller verstellt mit aufgetürmten Rundballen aus gepressten Halmen die Bühne und drängt die Schauspieler gegen die Rampe. Anton Tschechows "Die Möwe" spielt offenkundig auf dem Lande. Mit zuweilen überdeutlichen Zeichen operiert Alice Buddeberg bei ihrem Regiedebüt auf der großen Bühne im Schauspielhaus, was ihr beim Schlussbeifall für den überzeugenden Kostja von Sören Wunderlich und das Ensemble einige Buhrufe einbrachte.

+++ Imposantes Bühnenbild - unglückliche Charaktere +++

Imposant und präzise komponiert Buddeberg den "Ferien-Stillstand" zu Beginn. Ein Gruppenbild mit genervten Urlaubern. Die Regisseurin gibt den auf zehn reduzierten malerisch vor, auf und zwischen den Ballen verteilten Figuren die Muße, in Blickwechseln, Gestik und Paarung deren vorwiegend gespannte Beziehungen zu skizzieren. Sie werden quasi wie auf einer Breitleinwand in Großaufnahme vorgestellt mit all ihrer Eifersucht, Langeweile, Müdigkeit, Sehnsucht, Trägheit, inneren Unruhe und Unzufriedenheit.

Die Regisseurin hält sich an die Textfassung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch, sie verengt ähnlich wie er in seiner Inszenierung am Deutschen Theater den Spielraum für die Schauspieler auf einen schmalen Streifen an der Rampe. Und entwickelt Tschechows Künstlerdrama entschlossen als komprimierte Komödie mit Knalleffekt zum Finale. Bevor sich der unglückliche und verzweifelte Künstler Kostja erschießt, entfesselt sie einen Geisterreigen von Rastafari-Zombies, als die ihm seine unbedingt jung sein wollende Familie erscheinen. Ein plakatives, dem Stück nicht wirklich gerecht werdendes Schlusstableau.

Russisches Kolorit und Dekadenz einer Künstlerkommune erspart sich die Regisseurin, lässt in Figurenzeichnung und Martina Küsters (oft unvorteilhaften) Kostümen an Menschen von heute denken, die sich durch Ehrgeiz, falsche Pläne oder Wünsche verzetteln und gestresste Nervenbündel sind. Kostja will sein neues Stück der Familie vorführen. Er hasst das "alte Theater", das seine, hier sehr jugendliche Mutter Arkardina verteidigt. Ute Hannig gibt sie recht sportiv in Shorts als gebändigt hysterische Rampentigerin. Kostja beneidet ihren Liebhaber, den Erfolgsautor Trigorin. Johannes Flachmeyer, der ihn spielt, ist allerdings nicht der Typ Kerl, der Frauen auf den ersten Blick den Atem raubt. Er wirkt zwar lässig mit Strohhalm im Mund, aber es fehlt ihm an Erotik und Persönlichkeit.

Ausgerechnet die als "schlechte" Möchtegern-Schauspielerin angelegte Nina stiehlt Flachmeyer die Show. Johanna Falckner wirkt zuerst wie eine gehemmte Landpomeranze, die nicht bis drei zählen kann. Sie entwickelt aber rasch einen unbedingten Willen und nimmt buchstäblich den mit ihr zaghaft anbändelnden Trigorin in Besitz. Eine überraschende Sicht der Figur. Auch ihre Szenen mit Kostja berühren ohne die geringste Spur von Larmoyanz und zählen zu den fesselnden Momenten der Aufführung.

Mit der sich aufspaltenden Wand - wiederum überdeutlich Trennungen zwischen den vergeblich Liebenden symbolisierend - zerfällt die Inszenierung. Sie wird zwar von den Charakterschauspielern wie Markus John als Kostja-Onkel Sorin, Tim Grobe als Arzt oder Martin Pawlowskys geizigem Verwalter mitgetragen, bietet ihnen aber zu wenig Gelegenheit zu einer vertieften Zeichnung der Figuren. Ihnen bleibt oft nicht viel anderes übrig, als ins Publikum zu sprechen, das genauso Zuschauer ist, wie sie es selbst auf der Bühne sind. Unter den Augen aller spielen sich die Streitereien um Geld, Pferde oder Zuneigung ab, die Kostja mit einem ersten Gewehrschuss jäh stoppt.

Sören Wunderlich spielt sich unbestreitbar ins Zentrum der Aufführung. Er gewann bereits als "Grille" in Schimmelpfennings "Der goldene Drache" die volle Aufmerksamkeit und zeigt intensiv die Zweifel und Verzweiflung eines jungen Künstlers im Ringen um seine Liebe Nina und die "neuen Formen" für das Theater. Die hat Alice Buddeberg verinnerlicht und weiß sie auch intelligent einzusetzen, ohne sie leer zu bedienen oder an ihnen zu scheitern. Sie ist ein Talent, doch ihr Zugriff funktioniert in der "Möwe"-Inszenierung hauptsächlich im ersten Teil. Für ein dramatisches Schwerkaliber wie Tschechow fällt die Strohballen-Turnerei doch etwas zu leichtgewichtig aus.

Die Möwe 26., 29.10., 6., 12. u. 24.11., Deutsches Schauspielhaus, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de