Verheiratete sind immer Mann und Frau, Banken sind Hüter des Geldes, Fleiß zahlt sich aus. Allgemeine Grundüberzeugungen sind weggebrochen.

Was ist heute noch normal? Die Zwei-Kind-Familie, die dem Glauben anhängt, die nächste Generation werde es einmal besser haben? Der Banker unseres Vertrauens, der unser Erspartes sicher anlegt? Kriege, die an einem Tag ausbrechen und an deren Ende eine Kapitulationserklärung unterzeichnet wird? Stars, die zu etwas Besonderem wurden, weil sie etwas Besonderes können?

All diese Fragen kann man mit Nein beantworten. Denn all das gibt es zwar, aber es ist nicht mehr die Regel, es ist allenfalls eine von vielen Möglichkeiten.

Unser Leben ist bunter geworden, nicht nur durch Multikulti, Rollentausch, Globalisierung. Wir haben auch deutlich mehr Freiheiten als jede Generation vor uns. Viele Menschen fühlen sich dadurch aber nicht nur befreit, sondern auch überfordert. Sie suchen Klarheit, Orientierung. Im Buchhandel boomt der Ratgebermarkt.

"Inklusion" ist der jüngste Begriff, der vielem entgegensteht, was bisher als Norm galt. Inklusion heiß Einbeziehung und wird derzeit in der Pädagogik heftig diskutiert. Da geht es darum, dass behinderte Kinder in der Schule keinen Sonderstatus bekommen und deshalb dieselben Schulen wie alle anderen besuchen sollten. Ob blind, ob taub, ob geistig oder körperlich behindert - eine spezifische, sonderpädagogische Förderung fiele dann wohl für all diese Kinder weg. Inklusionsanhänger finden, dass alle Menschen gleich sind und dass niemand behindert ist. Behindernd könnten allenfalls Umstände sein. Oder, wie es sozialromantisch gerne heißt: "Sind wir nicht alle irgendwie behindert?"

Über das, was als normal gilt, und das, was eben nicht der Norm entspricht, was anders ist - nicht besser oder schlechter, aber eben so, dass es aus dem Bekannten und Üblichen herausfällt -, konnte man sich viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lang verständigen. Normal war, dass Eltern verheiratet waren, dass man seine Freunde außerhalb des Hauses traf und nicht online, dass man eine Ausbildung machte, um danach berufstätig zu sein und nicht Praktikant. Dass es drei Parteien gab, die sich in ihren Programmen unterschieden; dass maßlose Verschwendung, anders als Maßhalten, keine Tugend ist; dass man Filme im Kino sah und nicht als Download, dass Glaube Trost spendete oder dass Banken keine hochriskanten Zinsgeschäfte mit den Ersparnissen ihrer Kunden machten - um nur einige Beispiele zu nennen.

Aber mit solchen Gewissheiten ist es vorbei. "Das ist doch nicht normal!", jener Drohruf, mit dem Generationen von Eltern ihren Kindern Vorsicht eintrichterten und sie auf den richtigen Weg bringen wollten, funktioniert heute nicht mehr. Denn was ist heute das Normale, das Selbstverständliche, Gültige, das uns durch Familie, Gesellschaft und Arbeitswelt wie auf unsichtbaren Schienen führt und Leben und Alltag strukturiert? Das uns Gewissheit gibt und nicht nur flüchtige Meinungen und instabile Annahmen erzeugt?

Seit den 1960er-Jahren geht ein Individualisierungsschub durch die Gesellschaft, vollzieht sich die Herauslösung des Einzelnen aus traditionellen, kollektiven Lebenszusammenhängen und Sicherheiten. In der Folge haben sich Moralvorstellungen, Glaubenssysteme und stabile Zugehörigkeiten zu Familien und Nachbarschaft aufgelöst. Nicht mehr Herkunft, Geschlecht oder der soziale Status der Eltern sollen unser Verhalten bestimmen, sondern wir selbst entscheiden nun über Ausbildung, Wohnort, Beruf, Partnerschaft. Jeder Einzelne sollte seine persönliche Idee vom Glück verwirklichen dürfen, und sei die Nische für ihn noch so klein und abgelegen. Der Einzelne wollte frei und unabhängig werden. Und wurde frei. So frei, dass er sich oft gar nicht mehr auskennt mit dem, was angebracht ist und was nicht.

Mit den wachsenden Freiheitsspielräumen sind nämlich wachsender Entscheidungsdruck und Unsicherheiten verbunden. Und der Rückzug ins Persönliche zieht eine geradezu verzweifelte Glückssuche im Privaten nach sich. Bücher mit dem Wort "Glück" im Titel überschwemmen seit ein paar Jahren die Buchhandlungen. Und sie werden gerne gekauft.

Die Frage "Wie sollen wir leben?" stellen Philosophen seit zwei Jahrtausenden. Selten gab es so wenige Regeln und Pflichten für ein "gutes und richtiges" Leben wie heute. Wir haben unüberschaubare Freiheiten und wissen natürlich noch, was Gut und was Böse ist. Aber es gibt keine gesellschaftlichen Ausgrenzungen oder beruflichen Nachteile mehr für Menschen, die lieber in einer Nische leben als im Mainstream.

"Was geht?" scheint schon seit Längerem keine Frage mehr zu sein, die man als lockere Begrüßungsformel der Jugendsprache entlehnt hat. "Was geht?" ist eine Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft, in der die Richtlinien nicht mehr Normalität und Mitte heißen, sondern maximale Liberalität bei minimalen Umgangsgrundsätzen.

Normalität, also jene Kraft, die das Leben strukturiert und normiert, ist deutlich auf dem Rückzug. Der Mensch kann, wenn er will, weiterhin sein Glück im Büroalltag suchen, in der Monogamie, bei Bratkartoffeln und Spiegelei, beim sonntäglichen Kirchgang, beim Konzertbesuch oder indem er sich in Anzug und Kostüm kleidet. Aber er kann ebenso gut ohne Büro ein festes Einkommen beziehen, Partnerwechsel lieben und die exotische Küche, kann aus der Kirche austreten, Musik und Bücher digital konsumieren und sich in grelle provozierende Klamotten werfen. Ob Ehe oder Familien, das Arbeitsleben, Freizeit- und Essverhalten, Benehmen in der Öffentlichkeit, Mode, Kultur - nirgendwo bestimmt mehr die unbedingte Norm unser Leben. Jeder Einzelne von uns gehört nur in Teilen zu einer Gesellschaft, zur Spaß- oder Bildungsgesellschaft-, Parallel- oder Zivilgesellschaft oder einer virtuellen "community".

Soziale Kontrolle für Menschen, die sich nicht einfügen wollen oder können, greift nicht mehr. Nachbarn, Kollegen und Familie überwachen das Leben der anderen nicht mehr. Und wenn sie es tun, haben sie keinerlei Sanktionsmöglichkeiten, den Nichtangepassten auszuschließen. Niemand wird mehr geächtet, weil er geschieden, aus der Kirche ausgetreten oder homosexuell ist.

Der moderne Mensch erschafft sich selbst aus einer Vielzahl von Angeboten. Sich nach der Mitte auszurichten klingt da für manch einen schon allzu sehr nach Mittelmaß. Oder ist es vielleicht auch so, dass man die Mitte - das, was allgemein Konsens und anerkannt ist - gar nicht mehr findet inmitten einer Vielzahl von Möglichkeiten?

"Mitte", das war zu allen Zeiten etwas, das sich möglichst weit entfernt vom Extrem befand, irgendwo zwischen "Zuviel" und "Zuwenig". Mitte stand für Maßhalten und Tugend eines Bürgers, dem das Gemeinwesen und die eigene Glückseligkeit gleichermaßen wichtig waren. Mitte, das war dort, wo es solide und verlässlich zuging. Mittelklasse, mittelalt, Mitteldeutschland, da weiß man, was man hat.

Heute driftet die Gesellschaft auseinander: weniger Mitte, dafür mehr Arm und Reich, die Armut wächst ebenso wie der Reichtum. Hartz-IV-Empfänger und Finanzjongleure, die auf Maßlosigkeit und maximalen Gewinn programmiert sind, sind nur zwei Extreme, die das Arbeitsleben kennzeichnen.

Auch andere Lebensbereiche werden mehr und mehr von Extremen definiert. Autos im Luxussegment verkaufen sich gut, Mittelklassewagen - na ja. Dann schon lieber was Preiswertes aus Korea. Auch in der Mode geht teures Design von großen Namen wie Louis Vuitton gut. Die Masse kauft billig ein, so billig, wie es eigentlich gar nicht geht. Da kostet ein T-Shirt fünf Euro - dank flinker Hände in Asien. Wo und wie diese Hemden hergestellt werden, damit sie so billig sein können, interessiert die Käufer nicht. Statt auf gut verarbeitete Shirts mittlerer Preisklasse zu gucken, sind wir heute schon fixiert auf Schnäppchen.

Gleiches gilt für die Lebensmittelbranche, wo in den letzten Jahren nichts so sehr gewachsen ist wie die Billigdiscounter. Dort kann man ein Kilo Schweinefleisch für vier Euro erwerben. Eigentlich ist es obszön, dass es damit billiger ist als Katzenfutter. Wer es sich leisten kann, kauft dagegen auf dem Biohof oder im Feinkostladen ein. Selbst Kultur wird nur noch in Extremen konsumiert: Blockbusterfilme oder Autorenfilme statt Familienkino. Vampirschmöker und Historienschinken statt Gesellschaftsromane. Und in der Musik beherrschen globale Stars den Markt neben Nobodys, die kurzzeitig von Castingshows in die Medien gespült werden. Dass man eine große Karriere lange Zeit und mit Können aufbauen muss, glaubt kaum noch jemand.

Auch politisch verhalten wir uns zunehmend gespalten. Die Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Missständen wächst, aber gleichzeitig auch die Ansprüche an den Staat, der alles richten soll. Für die einen werden Politik und Wahlen immer wichtiger, andere empfinden nur noch Frust und Missmut über den Staat. Und ob wir die sozialstaatlichen Stabilitäten behalten können, die uns seit Jahrzehnten Sicherheit gaben, ist fraglich. Gesundheits- und Rentensystem, die Annehmlichkeiten des Wohlfahrtsstaates - sie werden unseren Kindern und Enkeln sicher nicht mehr so normal zur Verfügung stehen, wie wir es noch gewohnt waren. Was folgt aus all den verloren gegangenen Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten, den abgelösten alten Autoritäten und Leitbildern?

Das Verschwinden der Normalität muss nun allerdings nicht heißen, dass alles schlechter wird. Der Wegfall normativer Appelle muss nicht heißen, dass wir orientierungslos durch die Welt taumeln. Zu keiner Zeit gab es einfache Antworten auf die komplexen Zustände der Welt - trotz der vermeintlichen Sicherheiten, die frühere Normierungen vorgaben. Heute muss jeder Einzelne aus der Fülle der Möglichkeiten auswählen. Alles ist erlaubt, was keinem anderen schadet. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedenster Lebensstile, Überzeugungen und Angebote bedeutet jedenfalls eine unglaubliche Bereicherung für die Gesellschaft. Nutzen wir sie.