“Mylo Xyloto“, das neue Album der britischen Band Coldplay, bietet gute und weniger gute Momente. Und ein substanzloses Duett mit Rihanna.

Hamburg. Eine der großen Fragen, die sich popmusikalisch interessierte und in ästhetischer Hinsicht durchaus Unterschiede machende Menschen stellen, lautet auf den Punkt gebracht wie folgt: Darf man Coldplay ganz ernsthaft mögen? Und grundsätzlicher: Was ist eigentlich faszinierend an Stadionbands, was ärgerlich? Die englische Popband Coldplay gilt derzeit als größte der Welt. Heute erscheint ihr neues Album.

Es ist das fünfte und der Nachfolger des erfolgreichen "Viva la Vida or Death and All His Friends", für das die Gruppe drei Grammys bekam und mit dem sie in 36 Ländern auf Platz eins der Charts stand. An Coldplay kommt schon lange niemand mehr vorbei, die Songs laufen im Dudelfunk, in Supermärkten und in Cafés in Hamburg-Winterhude. Bei Amazon ist "Mylo Xyloto", wie das neue Werk erfinderisch heißt, seit etlichen Tagen als meistverkauftes Werk notiert, obwohl es erst heute offiziell zu haben ist. Das muss man beeindruckend nennen. Oder einfach berechnend; Chris Martin, der Sänger und Anführer der 1996 gegründeten Band, hat ihr Ziel, dereinst die Welt zu beherrschen, früh formuliert.

Und so biedert sich Coldplay genau in dem Maße dem allgemeinen Geschmack an, wie es die Musik einer Band tun muss, der die Massen verfallen sollen. "Mylo Xyloto" wird bei Skeptikern deshalb die gleichen Vorurteile hervorrufen wie die Vorgängeralben. Coldplay zu hören ist wie ein Bad in lauwarmem Wasser, sagen diese Leute. Ganz angenehm, aber der Kreislauf kommt nie in Schwung.

Andere behaupten, die Pop-und-Rock-Mixtur der Engländer sei ein emotionales Sedativ. Das kann man allerdings von allem Pop behaupten oder wenigstens vom meisten.

Die Zahl derer, die Coldplay-Songs berührend finden, die sich vom mit großer Geste vorgetragenen Kitsch mitreißen lassen, übersteigt diejenige der Mäkelnden bei Weitem. Coldplay-Fans werden das Konzept von "Mylo Xyloto" mögen. Der Songreigen erzählt eine Liebesgeschichte: Mylo liebt Xyloto - und umgekehrt.

Coldplay, das ist Erbauung für Millionen. Und deswegen, verspricht Chris Martin, der mit der Schauspielerin und Kochbuchautorin Gwyneth Paltrow verheiratet ist (ihr erstes Kind trägt den schönen Namen Apple), deswegen hat die Liebesgeschichte natürlich auch ein Happy End.

Ungleich interessanter klingt die (pop-)kulturelle Schnittmenge, die sich laut Martin aus den Inspirationsquellen ergibt: Dort fließen angeblich die Krimiserie "The Wire", die historische Widerstandsbewegung Die Weiße Rose und Graffiti zusammen. Letzteres immerhin lässt sich leicht am scheußlichen Cover-Artwork ablesen, alles andere bleibt der Suggestionskraft der Songs und der Interpretationslust der Hörer überlassen.

Wie zuletzt bei "Viva la Vida or Death and All His Friends" war Brian Eno, er machte einst U2 groß, an der Produktion von "Mylo Xyloto" beteiligt. Eno trieb dem Coldplay-Sound das Ungeschlachte, das Opulente und Verschnörkelte aus, ohne danach ganz auf Schwulst verzichten zu müssen. "Viva la Vida" ist ein perfekter Popsong; auf der neuen Platte hingegen gelingt Chris Martin, Will Champion, Guy Berryman und Phil Harvey dergleichen nicht.

Stattdessen greift auf dem dritten Album in Folge (auch "X & Y" war ein Muster an Eingängigkeit) die Coldplay-Formel: Hymne = Melodie + Gitarre + Synthesizer + Gejuchze. Seit Eno an den Reglern sitzt, sind noch hypnotische Klangflächen und Fanfarenklänge, sind Schlachtfeldgetrommel und die unbeirrt gegen die Keyboards andengelnden Gitarren hinzugekommen.

Wir werden Zeuge vom langsamen Verschwinden Chris Martins. In der Pose der Weltumarmung sagt der Sänger oft gar nichts mehr, statt Text hören wir Uuuuhuuuhuu und Whoa-oh-oh oh-oooh-oh-oh-oh und Kopfstimmen-Delirien: am schönsten in "Every Teardrop Is A Waterfall". Musik ist die universellste aller Sprachen, warum sich groß mit der Suche nach einem verbalen Ausdruck aufhalten?

"Mylo Xyloto" hat gute Momente ("Us Against The World", "U.F.O.", "Major Minus") und weniger gute. Der Song "Princess Of China" soll Disco-tauglich sein und ist deswegen ein Gemeinschaftswerk mit der Sängerin Rihanna. Was für ein substanzloses Spektakel, mit Gefiepe, seichtem Beat und viel Oooh-oh-ooooh. Rihanna kann das nämlich auch - unter der Anleitung von Chris Martin.

"Mylo Xyloto" und Coldplay sind das, wofür es im Englischen eine schöne Redewendung gibt: guilty pleasure - lasterhaftes Vergnügen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Coldplay "Mylo Xyloto" (EMI)

Internet: www.coldplay.com