“Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ hat Autorin Daniela Krien in den letzten Wochen der DDR angelegt, auf einem Gehöft in Thüringen.

Ach, wir postmodernen Städter. Erhaben über Konventionen und Zwänge, glauben wir, uns unsere Lebensentwürfe im Baukastensystem zusammenstellen zu können, ganz nach Geschmack und von allem gerade so viel, wie wir wollen. Merkwürdig schicksallos sind wir darüber geworden.

Was es jedoch bedeutet, hineingeworfen zu sein in eine Welt und eben nur in eine, das führt Daniela Krien in ihrem Debütroman so erbarmungslos lakonisch vor, dass einem beim Lesen der Atem stockt. "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" heißt das Bändchen; der Satz ist an die Lieblingslektüre der knapp 17-jährigen Maria angelehnt, Fjodor Dostojewskis Romangiganten "Die Brüder Karamasow".

Womöglich konnte Krien ihren Roman nur im Sommer 1990 spielen lassen und nur auf einem Gehöft irgendwo in den welligen Äckern Thüringens. Es sind die letzten Wochen der DDR, und die Träume und Sorgen fliegen so hoch wie der Staub in der Sommerhitze, die dieses Buch prägt bis ins Delirium. Dieses Landleben ist keine Idylle; dazu kratzen die Halme bei der Ernte zu sehr und werden die Kehlen zu trocken. In dem Zimmer, das Maria mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern bewohnt, seilen sich die Spinnen ab. Maria ekelt sich vor ihnen; trotzdem verbringt sie ihre Tage lieber dort und liest Dostojewski, als in die Schule zu gehen.

Eine labile Persönlichkeit, das zeigen uns schon diese wenigen Parameter. Krien macht kaum Aufhebens um Marias abgrundtraurige Kindheit, wie sie überhaupt selten etwas ausbuchstabiert. Dann aber verknüpft sie diese Vergangenheit virtuos beiläufig mit dem Startschuss des eigentlichen Dramas: Marias depressive, überforderte Mutter fährt nach einer Autopanne auf der nächtlichen Landstraße kurzerhand davon und lässt das Mädchen mit dem Mann stehen, der den Trabant wieder flottgemacht hat. Dass der ausgerechnet der Hofnachbar Henner ist, ein Mann in seinen Vierzigern, dessen düster-erotische Ausstrahlung Maria längst in seinen Bann geschlagen hat - das weiß die Mutter nicht.

Marias Gastgeber ahnen schon gar nichts. So nimmt ein Doppelleben seinen Gang, das nur deshalb unentdeckt bleibt, weil es offenbar niemand für möglich hält - und weil keiner der Beteiligten in jenem fernen Sommer 1990 ein Telefon hat.

Je tiefer sich Maria in ihrer Amour fou verstrickt, desto verzweifelter sucht sie Halt bei Dostojewski. Dafür muss sie nicht den ganzen philosophischen Überbau dieses Manifests verstehen; sie zieht einzelne Sätze heraus. Meisterlich deutet Krien an, wie wenig Maria, ein halbes Kind noch, überblicken kann, was sie tut, und wie wenig sie versteht, dass sie in der Enge der dörflichen Gemeinschaft nicht mal eben den Partner wechseln kann.

Kriens Sätze beziehen ihren Klang, ihren bezwingenden Rhythmus aus ihrer Schlichtheit. In ihnen spiegelt sich Marias Blick auf die Welt. In jedem Satz wahrt die Autorin diese beschränkte Perspektive. Doch erspart sie weder uns noch den Figuren ihres Kammerspiels, dass Henner, der Erwachsene, aus dem Ganzen seine eigenen Schlüsse zieht.

Daniela Krien: "Irgendwann werden wir uns alles erzählen". Graf Verlag, 240 Seiten, 18 Euro