Das NDR Sinfonieorchester spielte Bach und Brahms

Hamburg. Thomas Hengelbrock, frischgebackener Dirigent des NDR Sinfonieorchesters, ist dafür bekannt, so einiges anders zu machen, als der Musikbetrieb das gewohnt ist. Was er mit dem Orchester plant, hatte er bereits angekündigt: es als einen Klangkörper für vier Jahrhunderte aufzustellen - statt für die übliche Spanne von Beethoven bis Strawinsky. Und dass ein Konzert nicht der Endpunkt sei, sondern dass die Reise stets weitergehe.

Hübsch gesagt. Doch das jüngste Konzert hat nun deutlich gemacht, wie ernst es Hengelbrock mit seinen Ansagen ist. "Bach und Brahms" war es überschrieben und geriet so lebendig und spannend, wie nur etwas ohne perfekt polierte Oberfläche geraten kann.

Es mag die Spezialisten beruhigen, dass auch ein Sinfonieorchester mit hochkarätigen und historisch interessierten Musikern nicht im Handumdrehen mit einem Originalklangensemble gleichziehen kann. In Bachs Kantate "Wachet auf, ruft uns die Stimme" spielte das Horn immer mal einen Hauch höher als die Soprane, mit denen es sich die Melodiestimme teilte. Konzertmeister Stefan Wagner musste sich auf dem kleinen, höher gestimmten "Violino piccolo" im Solopart des Duetts "Wenn kömmst du, mein Heil?" erst freispielen. Und vom Continuo hätte man sich mehr Impulse, mehr Artikulation gewünscht. Dafür sorgten aber die stilsicheren Sängersolisten, allen voran die Sopranistin Johannette Zomer. Und wie Hengelbrock den Klang des NDR Chors auffächerte und welche Farben er den Streichern entlockte, das war mitreißend - bis hin zum geradezu entfesselten Schlussteil der Kantate "Gloria in excelsis deo".

Bei Johannes Brahms' vierter Sinfonie, deren letzter Satz unmittelbar von einer Bach-Kantate inspiriert ist, waren die Musiker spürbar mehr in ihrem Element. Auch hier hielt Hengelbrock nicht alles makellos zusammen, und mancher Holzbläserakkord trübte sich. Doch eröffnete Hengelbrock vom ersten unbestimmt-fahlen Auftakt an ein wahres Universum: So zart bewegt nahm er die das Thema umspielenden Achtel, so bewusst formte er den Streicherklang, ließ er die Töne aufblühen und wieder ersterben. Jede Stimme, jede kleinste Wendung hatte ihren Platz in diesem Gewebe. Oft bekam der rhetorische Gehalt der Musik mehr Gewicht als die ganz große Linie - doch die Schläge in der wuchtigen Passacaglia hatten etwas Überzeitliches.

Dem konnte man sich kaum entziehen. Sollte man auch gar nicht. Es ist nämlich noch jemand dabei auf Hengelbrocks Reise: der Adressat aller Musik, das Publikum.