Der weltberühmte Geiger über Mitleid mit Brahms, die Langeweile des Schönklangs und seine Lust, im Orchester zu spielen.

Bremen. Es ist noch still im Probenzentrum der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Nur Christian Tetzlaff ist schon da und kämpft mit der Kaffeemaschine. Dass kein Bediensteter herbeieilt, um dem Herrn Geiger jeden Wunsch zu erfüllen, passt zu Tetzlaff: Dieser Hamburger Jung von 45 Jahren, der am Sonntag sein erstes Konzert als Artist in Residence der Elbphilharmonie Konzerte gibt, macht keinerlei Aufhebens um seine Weltkarriere. Ganz allmählich hat sie sich entwickelt. Heute spielt er mit Luxus-Klangkörpern wie dem Philharmonie Orchestra London; jüngst war er "Perspektive Artist" der New Yorker Carnegie Hall. Das Abendblatt hat mit ihm gesprochen - bei Wasser, denn an der Kaffeemaschine ist Tetzlaff gescheitert.

Hamburger Abendblatt: Sie sind weder weiblich und langhaarig, noch haben Sie ein Markenzeichen wie "der seine Geige in die Badewanne mitnimmt". Sind Sie ein Dinosaurier auf dem Klassikmarkt?

Christian Tetzlaff: Ja, klar. Aber Vermarktung ist für mich unwichtig. Ich werde von den Orchestern und Dirigenten eingeladen und nicht von Veranstaltern, die irgendwas über mich gehört haben. Es stört mich, wenn jemand, der musikalisch nichts zu sagen hat, wegen äußerer Eigenschaften einen Marktwert hat und wilde Konzerte spielt.

Solche Fälle gibt es ja reichlich.

Tetzlaff: Es tut mir immer Leid um Leute, die einen Spieler wegen solcher Attribute bewundern. Denen entgeht, dass klassische Musik eine tiefe menschliche Erfahrung sein kann.

Die Leute haben doch ganz unterschiedliche Motive, ins Konzert zu gehen.

Tetzlaff: Da hat jedes Feld seine Berechtigung. In der Popmusik geht es darum, dass ein Sänger oder eine Band die Aufmerksamkeit der Massen auf sich bündelt, um ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Wenn man das auf die Klassik überträgt, wird der Interpret zum Star. Und das ist absurd. Er vermittelt doch die Botschaft von jemand anderem.

Betrachten Sie sich als Medium?

Tetzlaff: Jedenfalls will ich, dass jeder einzelne Hörer sich vom Komponisten persönlich angesprochen fühlt.

Zur Eröffnung Ihrer Residence bei den Elbphilharmonie-Konzerten gibt es jede Menge Kammermusik von Brahms.

Tetzlaff: Brahms spiele ich am liebsten.

Was lieben Sie an ihm?

Tetzlaff: Hm! (Pause) Er berührt mich sehr tief. Seine Musik ist ganz echt und gebrochen. Man ist ja nicht in einem Jahr glücklich und im nächsten furchtbar traurig. Die Stimmungen entwickeln sich natürlich. Wir spielen die G-Dur-Sonate, das ist eine melancholisch-heitere Tonart. Aber der langsame Satz ist ein Trauermarsch, und der letzte Satz ist ständig in Tränen. Bei Brahms gibt es Glücksausbrüche, oder er zieht einem den Boden unter den Füßen weg.

Davon ist bei Ihren Kollegen vor lauter Schönklang oft wenig zu hören.

Tetzlaff: Aber nur schön spielen ist gegen jeden tieferen Ausdruck! Wenn wir erregt oder traurig sind, dann bricht schon mal die Stimme. Wenn man nur sich selbst spielt, dann verpasst man, was den Komponisten im Innersten bewegt hat. Um das freizulegen, braucht es viel liebevolles Hingucken.

Hat also Interpretation etwas mit Einfühlung zu tun?

Tetzlaff: Sie hat, glaube ich, ganz viel mit Mitleid zu tun.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie sich einem Komponisten anverwandeln?

Tetzlaff: Zuerst mal gebietet es der Respekt, jeden Hinweis aus dem Notentext ernst zu nehmen, um dem Gehalt des Werks auf die Spur zu kommen.

Was muss man über die Zeit wissen?

Tetzlaff: Man muss schon wissen: Wie hat man denn damals gegeigt? Die Solosonaten von Bach waren doch stinklangweilig, so wohlklingend, wie man sie zwischen 1900 und 1980 gespielt hat. Aber dann hat man die Quellen gelesen und gemerkt, oh, die sprechen von unendlich vielen Arten des Vibratos: eins für Wut, eins für Liebe, eins für Hass, eins für Zärtlichkeit und so fort. Wir haben ein Universum auf Streichholzschachtelformat gebracht - dabei geht es darum, dass wir auf der Bühne tanzen und sprechen und schreien.

Aber nicht nur in der Barockmusik.

Tetzlaff: Nein. Denken Sie an den ersten Einsatz der Sologeige in Brahms' Violinkonzert. Der Einfluss der zigeunerischen Geigerei ist so stark, das muss einfach in wildester Manier gespielt werden. Natürlich riskiere ich sehr viel. Aber was riskiert Brahms!

Sie geben alles im Konzert - und dann gehen Sie ab, und plötzlich ist das vorbei. Wie halten Sie diesen Wechsel aus?

Tetzlaff: Also ohne Alkohol würde das nicht funktionieren (lacht). Das erste Bier trinke ich möglichst beim ersten Rausgehen. Um aus dieser Trance wieder rauszukommen. Ich hab mich auch schon dabei erwischt, dass ich von der Bühne gehe und dazu einen blöden Tusch zupfe - das ist nicht despektierlich! Sondern heißt: Das war jetzt das.

Und dann kommt was anderes.

Tetzlaff: Genau. Oft gehe ich noch mit Leuten aus, dann machen wir Spökes.

Haben Sie nicht manchmal Lust, nach der Pause im Orchester mitzuspielen?

Tetzlaff: Immer. Manchmal mach ich's auch. Aber es ist ein bisschen peinlich, zu tun, als ob man das einfach so könnte, sich ohne Probe da reinzusetzen.

Spielen Sie dann Erste oder Zweite Geige?

Tetzlaff: Letztes Pult Zweite Geige. Wenn das Publikum mich sähe, das wäre ja noch peinlicher!

Christian Tetzlaff, Sharon Kam, Lars Vogt und Freunde 16.10., 19.00, Laeiszhalle, kl. Saal. Karten: 11,- bis 38,- unter T. 35 76 66 66. Und Konzerte am 5., 23.12, 30.1., 14.4. Infos: www.elbphilharmonie.de