Mit der Choreografie “Dance“ von Lucinda Childs, Philip Glass und Sol LeWitt gastiert ein Klassiker der Avantgarde auf Kampnagel

Kampnagel. Anno 1979 sorgte die Aufführung "Dance" der amerikanischen Tänzerin und Choreografin Lucinda Childs für eine kleine Revolution. Childs erfand den Minimal Dance aus dem Geist der Minimal Music des Avantgardisten Philip Glass. Der Konzeptkünstler Sol LeWitt projizierte die Bewegungen überlebensgroß in seinem Bühnenbild und ließ die Tänzer darin sich selbst begegnen. So etwas Unerhörtes hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Wie visionär eine Ästhetik ist, zeigt sich häufig erst in der historischen Rückschau. "Dance" markierte damals die Abkehr vom kargen Purismus der 1960er-Jahre, in denen es im Tanz überwiegend schmucklose Alltagsbewegungen auf der Bühne zu sehen gab.

Längst gilt die Inszenierung als Klassiker des postmodernen Tanzes. Lucinda Childs selbst war es, die 30 Jahre später eine Neueinstudierung vornahm. Eine junge Tänzergeneration schwebt darin vor einem Gaze-Vorhang, begegnet vor geisterhafter Videoeinspielung, sozusagen virtuell, den historischen Tänzern, darunter der damals 39-jährigen Choreografin in ihrem Solo.

Wie einst kreisen und springen die Tänzerinnen und Tänzer in ihren weißen Anzügen mal in Reihen, mal über die Diagonale meist paarweise zu dem scheinbar monoton wiederholten Trudeln und Pfeifen der Glass'schen Musik. Die Neufassung hebt die reine Inszenierung über den engen Kontext hinaus, reflektiert die Beziehung der Kunst zu ihrer Entstehung. Und erzählt im Detail auch von einem sich wandelnden Bewegungsrepertoire.

Vom 13. bis 15. Oktober gastiert die seit der Uraufführung 2009 von New York bis Paris und zuletzt beim Tanz im August in Berlin gefeierte Aufführung auf Kampnagel. Am 13. Oktober wird die 71-jährige Choreografin selbst bei einem Publikumsgespräch Rede und Antwort stehen. Die Aufführung passt ins Konzept von Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard, dem Publikum neben den heißesten Kunst-Trends Klassiker der Avantgarde zu präsentieren.

Lucinda Childs arbeitete lange Zeit ohne Musik. Über den Kontakt zu Theatervisionär Robert Wilson begegnete sie Philipp Glass. Die gemeinsam entwickelte Oper "Einstein on the Beach", 1976 beim Festival d'Avignon uraufgeführt, gilt bis heute als stilprägend für das postdramatische Musiktheater. Später arbeitete Childs auch mit den Regieschwergewichten Luc Bondy und Peter Stein zusammen.

Das zunächst Befremdliche von "Dance" war seine furiose Kargheit. Eine Inszenierung ohne jede Handlung oder Gefühlsausdruck. Ein Exodus der Zuschauer war die Folge. Das dürfte heute nicht mehr passieren, wenn die elf Tänzerinnen und Tänzer so scheinbar mühelos und doch so virtuos auf der Musikfläche dahinsurfen. Heute dürfte der Zuschauer stärker die kleinen Veränderungen in der musikalischen Textur realisieren. Die bei aller Einfachheit raffinierte Raumauffassung, aus der die Produktion ihre Schönheit entfaltet.

Lucinda Childs begann ihrer Karriere bei der Judson-Dance-Bewegung, die Kunstverständnis mit Gesellschaftskritik verband. Ihre Bewegungssprache wurzelt im Ballett. Inspiriert von neuen Ästhetiken einer Judith Dunn, Bessie Schonberg oder Merce Cunningham hat sie den Tanz demokratisiert. Mal verlegte sie die Kunst in eine Garage, mal auf die Straßen Manhattans. Nachdem sie 2001 ihre 1973 gegründete Compagnie auflösen musste, fand sie im französischen Paris eine neue künstlerische Heimat und weiterhin verdiente Anerkennung.

Die Neuauflage von "Dance" könnte ihr ein kleines Revival auf den weltweiten Bühnen verschaffen. Die Tradition des sogenannten Reenactment ist ein neuer Trend in der Kunst, erstaunlicherweise vor allem in den USA, nicht gerade das Flaggschiff radikal konzipierter Tanzästhetik. Im kommenden Frühjahr wollen Wilson, Glass und Childs hier auch den Geist ihrer legendären Produktion "Einstein on the Beach" in einer Neueinstudierung wieder aufleben lassen.

Lucinda Childs/Philip Glass/Sol LeWitt: Dance: 13. bis 15.10., jeweils 20.00, Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestraße 20-24, Karten zu 8,- bis 29,- unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de