Das neue Ballett Kiel startet mit Yaroslav Ivanenkos freudig bejubeltem “Nussknacker“ von Tschaikowsky, das sich an das Märchen hält.

Kiel. Mit Speck fängt man Mäuse, falsche Originalität ist fehl am Platz. Das hat der neue Kieler Ballettdirektor Yaroslav Ivanenko erkannt und bietet zu seinem Start dem Tanzpublikum einen fetten Ballettklassiker in abgespeckter Form. In sieben Wochen hat er mit einem blutjungen 20-köpfigen Ensemble aus aller Herren Länder Peter Iljitsch Tschaikowskys "Der Nussknacker" auf die Bühne des Opernhauses gestemmt. Die Tänzer agieren zugleich als Solisten und Corps de ballet. Sie und ihr Chefchoreograf wurden für diesen Kraftakt vom Premierenpublikum mit Ovationen gefeiert und umarmt.

Der Ukrainer Ivanenko, der zwölf Jahre im Hamburg Ballett getanzt hat, ist wie einer seiner Kieler Vorgänger, Martin Stiefermann, geprägt durch den Stil von John Neumeier. Stiefermann setzte sich jedoch beim Amtsantritt 1995 entschieden gegen Ballett ab, verbannte den Spitzenschuh und konfrontierte - wie auch seine Nachfolger Stephan Thoss und Mario Schröder - die Kieler mit den verschiedenen Formen der zeitgenössischen Tanzkunst. Nach mehr als 15 Jahren Durststrecke ohne Spitzentanz und Tutus bringen Ivanenko und seine Frau Heather Jurgensen, eine langjährige Herzensballerina der Hamburger, den klassisch akademischen Tanz an die Förde zurück. Bewusst hat Generalintendant Daniel Karasek auf Paradigmenwechsel gesetzt. Er will das ernüchterte, den "Verrenkungen" des Contemporary Dance etwas müde gewordene Publikum wiedergewinnen, ihm den Tanz attraktiv und schmackhaft machen. "Der Nussknacker" - das Weihnachtsballett par excellence - ist zur Eröffnung der Saison ein cleverer Schachzug und sicherer Zuschauermagnet. Sitzt das Publikum dann begeistert in der "Tanzfalle", wird Ivanenko ihm das zeitgenössische Gegenprogramm "zumuten". Dass sein Kalkül aufgeht, wäre ihm zu wünschen.

Der Knackpunkt in Yaroslav Ivanenkos knackiger zweistündiger Klassikerversion ist die goldene Nuss. Sie ist das Symbol für Macht, um das der Mäusekönig und der als Nussknacker verzauberte Prinz aus dem Fantasiereich Konfitürenburg kämpfen. Der Choreograf hält sich nämlich eng an das Märchen "Nussknacker und Mausekönig" von E.T.A. Hoffmann. Es wird den Schülerinnen eines strengen Internats vom skurrilen Pauker Drosselmeier (Bjarte Emil Wedervang Bruland) vorgelesen. Unter ihnen Clara (Victoria Lane Green). Als Musterschülerin dreht sie auch gleich ein paar tadellose Pirouetten, gewinnt die hölzerne Nussknacker-Figur lieb und besucht sie zur Mitternacht. Die Tafel im Klassenzimmer (Bühne: Oliver Helf) öffnet sich in die magische Märchenwelt. Aus dem Dunkel der Unterbühne kommt auch das Kellerloch der Mäuse hochgefahren. Dort balgt und rauft die grau gewandete Nager-Gang wie ein Football-Team um die begehrte Schalenfrucht. Zwar glänzt ihr King (Alexander Abdukarimov) mit Battements und Grand jétes, doch seine Bande agiert eher grotesk - wie aus einem Comic entsprungen.

Gebannt und aufgeregt, mit dem Finger im Mund, verfolgt denn auch das jüngere Publikum den Kampf der Mäuse mit dem sprungstark zackigen Kernbeißer in roter Gardeuniform (Eldar Sarsembayev). Das ungleiche Duell entscheidet Clara mit einem Wurf ihres Spitzenschuhs und tanzt den ersten Pas de deux mit dem Nussknacker auf einem Bein barfuß - eine ironische Brechung des akademischen Stils, mit der der Choreograf auch im Divertissement des zweiten Aktes humorvoll spielt.

Doch zuerst geht Claras Traumreise durch den verzauberten Schneewald. Lupenrein glückt das Schneeflocken-Sextett in klassischem Spitzentanz und weiß glitzernden, spitzig gezipfelten Tutus (Kostüme: Anna Ipatieva). Die Schülerinnen rollen zwischen den wirbelnden Eiskristallen mit ihren Betten in ausgelassener Polsterschlacht. Immer wieder bricht Ivanenko das Korsett der Danse école auf, holt auch den Kinder- und Jugendchor der Oper Kiel auf die Seitenbühne für den schwebenden Geistergesang im stimmungsvoll verschneiten Finale des ersten Aktes.

Ein lebendes Bild der Märchenfiguren eröffnet den zweiten Akt mit den Charaktertänzern. In feurigem Sturmschritt erobert sich die Spanierin (Hiroko Asami) das Publikum. Marina Kadyrkulova und Didar Sarsembayev verschlingen sich zu geometrischen Arabesken des arabischen Tanzes, und den ukrainischen Trepak springen akrobatisch Alexander Abdukarimov und Tomoaki Nakanome. Jubel.

Fehlt es zuweilen noch an tänzerischem Feinschliff, macht dies der jugendliche Charme und Elan wett. Für den berühmten Grand Pas de deux findet Ivanenko kluge und doch wirkungsvolle Lösungen, die das Protagonisten-Paar beispielsweise in den Hebungen nicht überfordern. Im Zuckerfee-Solo zeigt Green Clara als fröhlich kräftiges Naturkind mit überraschender Ballerinaanmut und erntet Beifall für leichtfüßig gesetzte Akzente und das Dutzend fabelhaft gedrehter Fouettes.

Eine Reprise des Rosenwalzers leitet über in den Schluss und beendet Ivanenkos gelungenes Tanzfest mit Champagner und projiziertem Feuerwerk.

Der Nussknacker 11.10., 19.30, 16.10, 18.00, 21.10., 20.00 und weitere Vorstellungen im November und Dezember, Karten unter T. 0431-90 19 01; www.theater-kiel.de