Gabrielle Chanel war Frankreichs Jahrhundertfrau. Eine Stil-Ikone, die ein Imperium aufbaute - und eine Nazi-Kollaborateurin war.

Sie kamen in der ersten Septemberwoche 1944, wenige Tage nach der Befreiung von Paris. Um acht Uhr morgens schoben sich zwei junge Männer, Freiwillige der Widerstandsgruppe Forces françaises de l'Intérieur (FFI), in Sandalen und kurzärmeligen Hemden durch das Foyer des feinen Pariser Hotels Ritz und holten Coco Chanel aus ihrem Zimmer. Es war der Moment, den Chanel gefürchtet hatte. Sie ahnte, dass sie auf der schwarzen Liste der FFI stand.

Überraschend schnell war sie nach wenigen Stunden wieder frei. Bei der Rückkehr in ihre reguläre Wohnung in der Rue Cambon sagte sie zu ihrem Dienstmädchen: "Churchill hat mich befreit." Kurz darauf setzte sie sich nach einer Warnung ihres Freundes, des Herzogs von Westminster, überstürzt in die Schweiz nach Lausanne ab.

Coco Chanel, vor der Résistance gerettet durch den britischen Hochadel und den Premierminister persönlich - das klingt fast nach Operette. Aber Coco Chanels ganzes Leben (1883-1971) gäbe Stoff für Operetten her. Episoden daraus werden fürs Kino verfilmt, 57 Biografien sind erschienen. In fast allen aber klafft zwischen 1939, als sie ihr Geschäft in Paris schloss, und dem Beginn ihres Comebacks 1954 eine Lücke. Hinweise auf Chanels Nähe zu den Nazis gab es immer wieder. Aber erst jetzt, 40 Jahre nach ihrem Tod, wird die Lücke genauer ausgeleuchtet. Hal Vaughan belegt in seinem Buch "Der schwarze Engel": Chanel war als Agentin der deutschen Abwehr tätig.

Der Mann, der diese Bombe platzen ließ, ist 84 Jahre alt und lebt zurückgezogen in einer großen Altbauwohnung in Nähe der Pariser Oper. Bis auf den Marmorkamin mit Spiegelaufsatz ist Hal Vaughans Wohnzimmer schlicht: ein großes Ledersofa, ein Schreibtisch mit Computer, ein paar Mitbringsel aus seiner Zeit in Asien. Ebenso aufgeräumt ist sein beeindruckendes Detailwissen. Vaughan geht nach einem Herzanfall noch an Krücken. Aber er genießt ein lebhaftes Gespräch.

Auf sein Thema sei er aus "reinem Zufall" gestoßen, sagt er, "ich kannte Chanel nicht". Er plante ein Buch über einen schillernden US-Geheimdienstagenten, der 1940 undercover ins besetzte Frankreich gereist war, "um die chemischen Formeln des Parfüms 'Chanel No. 5' in Erfahrung zu bringen und Inhaltsstoffe, etwa Jasmin, in die USA zu schleusen", erzählt Vaughan. Er wunderte sich: Warum schickten die Gebrüder Wertheimer in New Jersey, jüdische Emigranten aus Paris und Industrielle, einen Agenten nach Frankreich, um Rezepturen klauen lassen? Die Nebenfigur führte, wie so oft, zum überraschenden Kern: 1924 hatte Gabrielle Chanel den Wertheimers 90 Prozent ihrer Parfüm-Produktion verkauft; jetzt wollte sie die Firma unbedingt zurückgewinnen - ein Machtkampf in den Zeiten der Nazis.

In polizeilichen Geheimdienstberichten der Pariser "Préfecture de Police" entdeckte Vaughan ein zehnseitiges Dokument, das Chanels Agententätigkeit, ihre Agentennummer F-7124 und ihren Codenamen "Westminster" offenbart. "Ich wollte meinen Augen nicht trauen", sagt er. "Ich dachte, entweder ist das eine Fälschung, oder es ist Stoff für eine große Geschichte." Drei Jahre lang forschte er in Archiven in Frankreich, Großbritannien, Deutschland, der Schweiz, erschloss noch unveröffentlichtes Material. Die Recherchen bestätigten Chanels Verstrickung.

Warum hat diese Frau, die vom unehelichen Kind eines Kirmesarbeiters zu Europas bedeutendster Modeschöpferin aufstieg, sich mit den Deutschen eingelassen? Die Antwort führt in die Tiefen ihrer verwickelten Biografie. "Man kann mehrmals im Leben sterben", hatte sie einer Freundin einmal gesagt. Man kann sich auch mehrmals im Leben neu erfinden - das hat kaum eine Frau so konsequent getan wie sie.

Ihre Startchancen waren gleich null, als der Vater die Zwölfjährige 1895 nach dem Tod ihrer Mutter in ein Waisenhaus steckte. Mit 18 entdeckte die junge Näherin, dass sie ein hübsches Mädchen war, und versuchte sich als Sängerin in Offizierskasinos. Ihr Rezept war einfach: Sie hielt sich an reiche Männer. Zwei von ihnen finanzierten ihr 1908 die Gründung eines Hutsalons, dann Boutiquen in Paris, Biarritz und Deauville. Schon 1918 war sie eine reiche Frau.

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In ihrem Privatleben zeichnete sich ein Muster ab. Weil Frankreichs dünkelhafte Oberschicht Chanel als Kurtisane nicht akzeptierte, bewegte sie sich in der freizügigen Pariser Bohème: reiche russische Emigranten, avantgardistische Künstler und ihre Musen, lebenslustige Söhne des Adels. Junge Männer, "die zwischen den Geheimdiensten, den Automobilklubs und den reichen privaten Wohltätigkeitseinrichtungen zu pendeln scheinen", wie John le Carré es einmal ausdrückte. Chanel brauchte das Geld dieser Männer nicht mehr - sie brauchte ihre Beziehungen.

Der russische Großfürst Dimitri Pawlowitsch zum Beispiel brachte sie mit dem Hofparfümeur des früheren Zaren zusammen, der für sie das "Chanel No. 5" entwickelte. Ihr Geliebter Hugh Grosvenor, der Herzog von Westminster, machte sie mit Winston Churchill bekannt. Der zeigte sich entzückt.

"Eine äußerst tüchtige und liebenswürdige Frau", schrieb Churchill 1928 an seine Frau aus Südfrankreich, wo er mit Chanel und Westminster auf der Wildschweinpirsch war. "Sie hat den ganzen Tag eifrig gejagt, ist dann nach dem Abendessen nach Paris gefahren und heute damit beschäftigt, einen endlosen Strom von Mannequins an sich vorbeiziehen zu lassen und deren Kleider zu verbessern ... Sie macht alles eigenhändig, das Abstecken, den Zuschnitt, das Drapieren ..."

Obwohl sie wie alle Franzosen Hitlers Aggression fürchtete, verliebte sich die 57-Jährige 1940 ausgerechnet in einen Deutschen: den elf Jahre jüngeren Spion Hans Günther von Dincklage. Nach der Okkupation von Paris verschaffte er ihr das Privileg, auch weiterhin in dem von den Nazis beschlagnahmten Ritz zu wohnen. Während die Besatzer jedem Pariser 1941 höchstens 1200 Kalorien Nahrung zuwiesen, bot die Speisekarte des Ritz Grapefruits, Seezungenfilet und Spitzenweine.

+++ Hal Vaughan +++

Dincklage war den französischen Sicherheitsbehörden schon bekannt: Er arbeitete seit 20 Jahren für den deutschen Geheimdienst und hatte in Südfrankreich ein Agentennetz aufgebaut. Jetzt fädelte er für seine Freundin direkte Kontakte mit der Nazi-Führung ein. 1941 reiste Chanel mit einem Co-Spion zum ersten Mal nach Spanien, um unter deutschfreundlichen Ausländern "neue Agenten zu rekrutieren", wie Akten ausweisen.

Was versprach sich Chanel davon? Zum einen brauchte sie deutsche Fürsprecher, um ihren Neffen aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager freizubekommen. Zum anderen wusste sie, dass das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime im südlichen Frankreich bereits "Arisierungs"-Gesetze vorbereitete, um jüdische Unternehmen in "arischen Besitz" zu überführen. Chanel sah hier die Chance, den Wertheimers das Millionengeschäft mit "Chanel No. 5" zu entreißen. "Da hat Dincklage zu ihr gesagt: Wir helfen dir, aber dann musst du auch etwas für uns tun", sagt Vaughan.

Chanel beriet sich mit einem der wichtigsten deutschen "Arisierungs"-Funktionäre in Frankreich, im Winter 1943 traf sie sogar in Berlin Walter Schellenberg, Abwehrchef und rechte Hand von Heinrich Himmler. Schellenberg hatte unter anderem die Widerstandsgruppe Rote Kapelle vernichtet. Das war nun keine tolerante Bohème mehr. Wusste sie nicht, dass französische Juden deportiert wurden? War keine ihrer 4000 früheren Angestellten davon betroffen? Wollte sie es gar nicht wissen? Chanel hat Angehörige und Freunde immer unterstützt. "Aber ich habe keinerlei Unterlagen gefunden, wonach sie Verfolgten geholfen hätte", sagt Vaughan.

Was Chanel nicht ahnte: Die Wertheimers hatten vorgesorgt und setzten mithilfe des US-Agenten einen französischen Strohmann als Geschäftsführer von Les Parfums Chanel in Paris ein, der die Firma bis nach dem Krieg kommissarisch verwaltete. Derweil startete Schellenberg mit Chanel die Operation "Modellhut". Sie sollte in der britischen Botschaft in Madrid Kontakt zu ihrem alten Freund Churchill aufnehmen und ihm übermitteln, dass einflussreiche Nazis - wie Himmler und Schellenberg - bereit wären, einen Separatfrieden mit England zu schließen. Hitler hätte dann den Rücken frei, die Sowjetunion zu besiegen. Diese Illusion war damals in Teilen der deutschen Abwehr, aber auch im britischen Adel durchaus verbreitet. Churchill jedoch wollte keinen Frieden mit Hitler. Die Mission schlug fehl. Und der britische Geheimdienst MI5 war nun über Chanel im Bilde.

Hätte 1944 auch die Résistance davon gewusst, dann hätte wohl selbst Churchills Intervention Chanel nicht vor der Todesstrafe gerettet. Nach dem Ende der Besatzung wurden überall in Frankreich Kollaborateure gejagt, nach Schätzungen etwa 30 000 bis 40 000 umgebracht.

Chanel muss große Angst gehabt haben, dass ihre Mitwisser reden würden. "Nach dem Krieg hat sie alle ausbezahlt", stellte Vaughan fest. Sie finanzierte Dincklage einen komfortablen Lebensabend auf den Balearen. Sie finanzierte Schellenberg, den ein Militärgericht 1945 zu sechs Jahren Haft verurteilt hatte, nach seiner Entlassung ein Chalet am Lago Maggiore und seine Krebsbehandlung. Als 1958 posthum seine Memoiren erschienen, wurde Chanel denn auch mit keinem Wort darin erwähnt. Belastendes Material gegen sie gab es trotzdem längst, Verhörprotokolle, Aussagen von Überläufern, Akten; nur waren sie in verschiedensten Archiven verstreut.

Die Wertheimers kauften Chanel 1947 ihr Modehaus ab und finanzierten ihr Comeback 1954. Anklage wegen Kollaboration erhoben sie nicht: "Sie wollten ihre Weltmarke nicht beschädigen", sagt Vaughan. Das gilt auch heute noch. Auf Vaughans Buch reagierte das Haus Chanel, das heute den Enkeln Alain und Gerard Wertheimer gehört, prompt mit einer Erklärung: "Niemand weiß mit Sicherheit, was passierte ... Es gibt viele verschiedene Versionen, die ohne Zweifel für immer ein Mysterium bleiben werden." Dincklage wird als Tennis spielender Lebemann dargestellt. Vehement wandte sich das Modehaus gegen Vaughans Behauptung, Chanel sei Antisemitin gewesen: Sie habe "Juden zu ihren engsten Freunden gezählt".

Chanels Überzeugungen schillern quecksilbrig. So als habe sie immer das gesagt, was ihr jeweiliges Umfeld hören wollte. Mal sagte sie: "Ich habe nichts gegen Juden." Ein anderes Mal: "Ich fürchte nur die Juden und die Chinesen; die Juden aber noch mehr als die Chinesen." War sie überhaupt ein politischer Mensch? "Sie scherte sich einen Dreck um Politik", sagt Vaughan. "Ihr einziges Interesse war ihr Geschäft." Für ihn war sie "eine außergewöhnliche, ungeheuer einflussreiche Frau. Und eine klassische Opportunistin."

Anders als die ebenfalls hoch kreative Leni Riefenstahl hat sich Chanel nicht vor den Karren der Nazi-Propaganda gespannt. Sie hat niemanden denunziert. Sie hatte braune Freunde und ging mit der Macht. Und nach dem Krieg legte sie die alte Chanel ab und kreierte eine neue. Aber 40 Jahre nach ihrem Tod hat ein unbeirrter Autor die Puzzleteile doch noch zusammengefügt.