Die Ausstellung “Atlas. How To Carry The World On One's Back?“ will kreative Arbeitsprozesse sichtbar machen. Die Kunst vor der Kunst.

Hamburg. Kein Zweifel: Georges Didi-Huberman ist begeistert. Eine Begeisterung, die er mit jedem teilt, der ihm Fragen stellt, der nachhakt, sei es mit Skepsis oder Bestätigung. So auch bei "Atlas", dem neuesten Ausstellungsprojekt des französischen Philosophen und Kunsthistorikers. Was er in den Phoenixhallen zusammengetragen hat, offenbart sich als ambitioniertes, vom Detail bis ins Große gehende Projekt. Kunst gibt es hier reichlich zu sehen. Vor allem aber die Kunst vor der Kunst. Jenen künstlerischen Arbeitsprozess also, wenn nicht Handwerk angesagt ist, sondern das Vergleichen der Bilder und Motive untereinander. Wenn Künstler sammeln und recherchieren und dabei verblüffende Verwandtschaften entdecken, sich von Assoziationen und unerwarteten Bildbezügen inspirieren lassen.

In der Ausstellung stehen dafür zahlreiche Positionen, mit Namen nicht nur aus der Kunst, sondern ebenso aus Literatur und Wissenschaft. Nach Madrid und Karlsruhe ist "Atlas. How To Carry The World On One's Back?" in Hamburg und damit in seiner geistigen Heimat angelangt. Hier hatte Aby Warburg (1866-1929), Sohn einer Hamburger Bankerfamilie, verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg nach einem neuen Bildverständnis geforscht. Auf 40 Bildtafeln montierte Warburg mehr als 1000 Fotos mit Motiven aus unterschiedlichen Kulturen und Zeiten, von der Antike über die Renaissance bis hin zu Ritual-Darstellungen der Hopi-Indianer oder so scheinbar lapidaren Motiven wie Briefmarken, Werbung oder Illustrationen eines Kochbuchs. Für Warburg eröffneten sich mit diesem "Atlas der Bilder" weitgreifende Einsichten. Sie zeigten, wie einmal gefundene Bildlösungen und Bildformeln über die Zeiten und Räume weiterlebten. Warburgs Tod 1929 verhinderte den Abschluss seines Projekts, das er Mnemosyne nannte, den Namen für die griechische Göttin der Erinnerung und Gedächtniskunst.

Warburgs Tafeln haben nur in Form von Fotografien überlebt. Einige sind nun in den Phoenixhallen ausgestellt. Sie bilden den Auftakt für eine mehr als üppige Auswahl an entsprechenden künstlerischen Bild- und Motivsammlungen seit dem frühen 20. Jahrhundert. Auch zu sehen: ein Geografie-Atlas des französischen Schriftstellers Arthur Rimbaud. Rimbaud hatte aus ihm Teile von Landkarten ausgeschnitten, um sie umseitig zu beschriften. Didi-Huberman will mit seiner Schau nun nachweisen, dass sich in solchen künstlerischen Arbeitsmethoden überwiegend mithilfe der Montage ein surrealistischer Impuls bemerkbar macht. Dinge und Motive werden zusammengetragen, die nach gängigem Wissensstand keine Ähnlichkeit zueinander aufweisen. Einmal aber auf eine Tafel, in eine Vitrine oder auf einem Tisch ausgebreitet, beginnen sie Beziehungen und Verwandtschaften herzustellen.

Unter den zahlreichen Beispielen aus Didi-Hubermans Auswahl befinden sich ein Album von Hannah Höch, ein dadaistischer Handatlas, Arbeiten von Karl Blossfeldt, "Atlanten" von Marcel Broodthaers, Hans-Peter Feldmann und Gerhard Richter, die Ansammlungen eines Christian Boltanski, Fotomontagen von Sol LeWitt oder Zeichnungen des Zoologen Ernst Haeckel. Es tauchen auf Sammlungen an Kriegsfotografien von Bertolt Brecht, ein Drehbuch von Ulrike Oettinger, ein reich illustriertes Skizzenbuch des Schweizer Kunsthistorikers Jakob Burckhardt aus dem 19. Jahrhundert oder eine Bildtafel mit Gesichtern unbekannter Menschen von Walker Evans. Sie entstand anlässlich seiner großen Retrospektive 1938 in New York, der ersten Einzelschau eines Fotografen im Museum Of Modern Art. In den Phoenixhallen ist sie nun Gerhard Richters Bildzyklus mit prominenten Gesichtern aus Enzyklopädien gegenübergestellt.

"Der liebe Gott steckt im Detail", hatte Aby Warburg über seine Atlas-Forschungen zum Besten gegeben. Und Didi-Huberman bekräftigt diese, gelegentlich sich in den Mikrobereich vertiefende Detailverliebtheit. Für ihn bedeutet der Atlas vor allem ein Werkzeug, das nicht der "logischen Ausschöpfung gegebener Möglichkeiten, sondern dem unausschöpflichen Öffnen bislang nicht vorhandener Möglichkeiten dient".

Atlas. How To Carry The World On One's Back? bis 27.11., Sammlung Falckenberg (S Harburg), Wilstorfer Straße 71, Tor 2, Besuch nur im Rahmen einer Führung möglich: Mi/Do 18.00, Fr 17.00, Sa/So 11.00/15.00; Anmeldung: besuch@sammlung-falckenberg.de oder T. 32 50 67 62