Philippe Quesne nimmt mit seinem subtilen Humor das Leben auf der Bühne unter die Lupe. Auf Kampnagel gastiert er heute mit “L'Effet de Serge“

Kampnagel. Im Vivarium können Menschen das Leben der Tiere studieren. Der französische Theatermacher Philippe Quesne macht die Bühne zum Schaukasten für das seltsame Treiben im Menschenzoo: 2003 hat der bildende Künstler und Ausstatter für Oper und Schauspiel das Vivarium Studio in Paris gegründet.

Das experimentelle Künstlerkollektiv aus Malern und Musikern, Videofilmern, Visual Designern und (Laien-)Schauspielern produziert Performances, die mit ihrer ungewöhnlichen Ästhetik, mit ihrer surreal verspielten Bildkraft, subtilem Humor und Poesie das Leben unter die Lupe nehmen. Dabei schlagen die zwischen Live Art, bildender Kunst und (Musik-)Theater grenzgängerischen Projekte wie "L'Effet de Serge" dem Kunstbetrieb ein Schnippchen und drehen nebenbei der spektakelsüchtigen Gesellschaft spöttisch eine lange Nase. Mit "L'Effet de Serge", 2007 entstanden, schafften der nun 40-jährige Quesne und das Vivarium Studio den Durchbruch. Sie reisten von einem Theater-Festival zum nächsten, faszinierten auch mit den Nachfolge-Stücken "La Mélancolie des Dragons" und "Big Bang" das Publikum - so auch beim Internationalen Sommerfestival 2009 und 2010. Nun präsentiert Kampnagel zur Saisoneröffnung auch die "Spezialeffekte" von Serge, mit denen der einsame, linkische Kauz die Zuschauer zwischen Avignon und Mexiko-Stadt zu bezaubern verstand.

Im Bühnenkasten ohne Fenster, doch mit einer Glastür ins Freie, steht ein Tapeziertisch. Darauf ein Fernseher und allerlei Krimskrams. Ein spilleriger Typ (Gaëtan Vourc'h) guckt in die Glotze und empfängt dann Freunde zu seiner sonntäglichen Show. Sie nehmen auf Stühlen Platz und die Zuschauer im Saal sehen den Zuschauern auf der Bühne beim Zuschauen zu. Wie diese verfolgen sie das Spielzeugauto mit der Funken sprühenden Wunderkerze zu Klängen der "Feuerwerk-Musik". Betretene Blicke, höfliche Beifallsbekundungen für den Kunstakt "Rolling Effect on Music by Händel". Oder für den "Light Effect on Music by Wagner": Zum Walkürenritt lässt Serge einfach Autoscheinwerfer grell aufblitzen.

Die schrottreife Karre werden Sommerfestival-Besucher von "Melancholie der Drachen" noch gut in Erinnerung haben und wiedererkennen. Da steckte der alte Citroën in einer Schneelandschaft fest. Serge schlägt den Bogen zu dieser Performance: Er kündigt sie als seine nächste sonntägliche Show an und lässt auf der Bühne verheißungsvoll drei zottelige Langhaarperücken zur E-Gitarre zucken - ein Hinweis auf die dilettierende Rocker-Band in "Melancholie der Drachen". Wenn Serge auch persönlich nicht dabei sein könne, wie er verkündet, so ist doch der Hund Hermès wieder mit von der Partie.

Ein Stück ergebe sich aus dem anderen, so beschreibt Philippe Quesne eine Vivarium-Regel und vergleicht seine Performances mit einer Reihe von Dominosteinen. Nur dass der interdisziplinäre Grenzgänger und das Team jedem "Stück-Stein" eine Vielzahl neuer und noch bunterer Steine hinzufügen.

Ironie, Witz und tiefere Bedeutung von "Serges Effekten" und Quesnes armem Theater sind: Sie machen eben keine sensationelle Wirkung, schärfen aber unseren (nicht nur im Kino) von Visual Effects geblendeten und verzerrten Blick für die Wunder der einfachen und wahren Dinge im Leben. Trotz seiner fantastischen Bilderwelten unterläuft Philippe Quesne stets die Produktion von Illusion, indem er die Vorgänge sichtbar macht. Die Akteure sind sozusagen "sie selbst", repräsentieren keine Figuren, leben im Bühnen-Vivarium so vor sich hin, tun allerdings so "als ob" sie nicht vom Publikum beobachtet würden, machen ihm aber das permanente Verstreichen der Zeit bewusst.

Philippe Quesne reflektiert in seinem Theater ironisch über das Theater, über die Verabredungen im konventionellen Schauspiel und die Erwartungshaltungen der Zuschauer. Ein subversiv heiterer Kulturpessimist, begnügt er sich jedoch nicht damit, den Kulturbetrieb zu parodieren. Der zivilisationskritische Franzose demaskiert mit seinem Vivarium-Konzept ebenso die zum Scheitern verurteilten hochfliegenden Pläne und menschlichen Willensleistungen: die Natur zu verstehen, Kunst zu machen, die Welt zu retten.

"L'Effet de Serge" Mi 28. bis Fr 30.9., 20.00, Kampnagel (U 3 Borgweg, Bus 172/173 Jarrestr.), Jarrestr. 20, Karten von 8,- bis 17,- unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de