Warum die Gegenwartsdramatik in der Krise steckt

Ein Schreckgespenst geht um auf deutschsprachigen Theaterbühnen. Bleich raunt es von der Krise der Gegenwartsdramatik. Von Geschichten ohne großen Geist und ohne nachhaltige Wirkung, Von sich abmühenden Figuren, denen Gewicht und Charakter fehlen. "Man hält sie flach, vage, lakonisch. Sie müssen ja durch den Windkanal, sie müssen standhalten im Handlungsgebläse", klagte Peter Kümmel unlängst in der Wochenzeitung "Die Zeit". Zombies seien das.

Stattdessen zählt nur noch die Handlung. Auf sie kommt es heute an. Sie gilt es, möglichst raffiniert auszustatten, mit Zeitsprüngen und verschiedenen Tonfällen einer Grundidentität zu versehen. Als Hauptübeltäter gilt nicht nur Kümmel der Autor und Regisseur Roland Schimmelpfennig. Mit Stücken wie "Push Up 1-3" und in Alltagssprache formulierten Dialogen schrieb er sich zum erfolgreichsten Gegenwartsdramatiker. Das Globalisierungsdrama "Der goldene Drache" brachte ihm den Titel "Dramatiker des Jahres 2010" bei den Mülheimer Theatertagen. Sein bisher letztes Stück "Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes" aber floppte und lief nur kurz im Thalia-Theater. Ist irgendjemand auch nur eine der Figuren im Gedächtnis geblieben?

Symptomatisch für die Krise mag auch die letzte "Lange Nacht der Autoren" in diesem Sommer am Deutschen Theater in Berlin gelten, die nach Ansicht der Kritiker erneut viel radikal Subjektives, aber wenig Erhebendes bot. Viel alltägliche Befindlichkeit, viel Privates, aber wenig weltumspannende Themen von Relevanz.

Da verwundert es kaum, dass immer mehr Theater auf Stoffe aus Roman und Film setzen. Was erfolgreich im Kino lief, bewährt sich auch in der Bühnenadaption. Das Altonaer Theater fährt damit schon seit einigen Jahren gut. Ob "Tadellöser & Wolff" oder Sven Regeners Bestseller "Herr Lehmann" und "Neue Vahr Süd", literarische Vorlagen sorgen für ein volles Haus. Intendant Axel Schneider hebt in Auseinandersetzung mit den Londoner Krawallnächten am 25. September die Düsternis von Anthony Burgess' Zukunftsvision "Clockwork Orange" auf den Spielplan, einst verfilmt von Stanley Kubrick. Am Schauspielhaus untersucht Stephan Kimmig in "Der Fall der Götter" vom 22. September an den Zerfall einer Familie anhand von Viscontis Skandalfilm "Die Verdammten".

Aber wo sind sie, die jungen Autoren, die die Gegenwart bei den Hörnern packen? Ihr auf den Zahn fühlen und ihre Zeitdiagnosen und -analysen auch noch so zu überhöhen wissen, dass sie eine gewisse Halbwertzeit erreichen? Es muss ja nicht gleich die von Goethes "Faust" sein. Selten erlebt eine Uraufführung heute mehr als eine weitere Aufführung. Nurkan Erpulat/Jens Hilje mit dem Saisonhit "Verrücktes Blut" sind die Ausnahme. Es sei denn, sie stammt von der einsam auf dem Gipfel des Sprachexperiments thronenden Elfriede Jelinek, die mit "Winterreise" in diesem Jahr erneut den Mülheimer Dramatikerpreis davontrug. Oder vom gekonnten Selbstzerfleischer Peter Handke, dessen aktuelles Werk "Immer noch Sturm" soeben den Wiener Nestroy-Preis für das beste Stück einfuhr. Die Uraufführung von Dimiter Gotscheff dürfte dem Thalia-Theater einen Erfolg bescheren. Oder von Dea Loher oder Armin Petras.

Unter den Nachwuchsautoren glänzen derzeit immerhin Oliver Kluck oder Felicia Zeller mit ihren eher politischen Zeitdiagnosen und Generationsgemälden sowie Philipp Löhle mit seinen prägnanten Ansichten zur Globalisierung. Die literarische Leerstelle bespielt immer häufiger die lang schon nicht mehr belächelte Freie Szene. Mit ihren performativen Formen gelingt es ihr oft treffender und nachhaltiger, die Gegenwart zu beschreiben. Kino und Roman sind das eine. Das Sprechtheater aber muss wieder die Kraft und den Mut zu relevanten Stoffen entwickeln.