Regisseur Stephan Kimmig inszeniert “Der Fall der Götter“ nach Luchino Viscontis Film “Die Verdammten“ am Hamburger Schauspielhaus.

Schauspielhaus. "Der Fall der Götter", eine Bühnenfassung von Luchino Viscontis Film "Die Verdammten" (1969), ist so recht ein Stoff nach Stephan Kimmigs Geschmack. Es geht um Macht und Moral, eine zerrüttete Familie nach dem Vorbild der Stahldynastie der Krupps, Karrierestreben um jeden Preis, das Ganze angesiedelt in den Anfängen des Naziterrors 1933. Wie geschaffen also für den anerkannten Analytiker gesellschaftlicher Makrostrukturen anhand des familiären Nukleus. Das Poröse, die Bruchstellen der großen Welt zeigen sich für Kimmig im Kleinen am eindringlichsten, ob in "Das Fest", "Nora" oder in den "Buddenbrooks", Inszenierungen, mit denen er bis vor zwei Jahren große Erfolge am Thalia-Theater feierte.

Nun hat der Regisseur die Bühne gewechselt. "Der Fall der Götter" feiert Donnerstag Premiere im Schauspielhaus. "Dieser Riesenraum braucht große Stoffe, die sich in die Zeit auch politisch sehr einmischen und viele Fragen aufwerfen", sagt Stephan Kimmig. Solange er zum Erfolgsteam Ulrich Khuons am Thalia-Theater zählte, mit dem er vor zwei Jahren ans Deutsche Theater Berlin ging, war jede Regiearbeit am Schauspielhaus tabu. Kimmig-Entdecker und Ex-Schauspielhaus-Intendant Friedrich Schirmer hatte schon vor zwei Jahren um eine Inszenierung angefragt, und diesmal sagte Kimmig zu.

Dann kam der heiße Kulturherbst 2010. Schirmer warf das Handtuch. Die Zukunft des größten deutschen Sprechtheaters stand plötzlich auf der Kippe. Stephan Kimmig blieb seiner Verabredung gegenüber dem heute nicht mehr bedrohten Haus treu. "Eine Absage wäre ein falsches Signal an die Politik und die Menschen hier." Manche Ensembleschauspieler kennt er noch aus den 90er-Jahren. Mit Lukas Holzhausen hat er in seinen Anfängen in Graz gearbeitet, mit Ute Hannig und Samuel Weiss in Stuttgart.

Vor zehn Jahren hatte Regisseur Johan Simons bereits "Die Verdammten" erfolgreich für die Theaterbühne adaptiert. "Der Fall der Götter" schildert die Ereignisse rund um die erfolgreiche Stahldynastie der Familie von Essenbeck. Patriarch Joachim von Essenbeck gerät zunehmend unter Druck der Nazis, die Kanonen und Panzer für ihre Kriegsplanung brauchen. Joachims verwitwete Tochter Sophie bandelt mit dem opportunistischen Ehrgeizling Friedrich Bruckmann an. Ihr Sohn Martin schockiert mit Auswüchsen einer stark gestörten Psyche.

Bruckmann wird wiederum von Sophies Cousin, dem SS-Offizier Aschenbach, für politische Zwecke missbraucht. Und Joachims zweiter Sohn Konstantin sucht seinen eigenen Weg an die Macht. In der Nacht des Reichstagsbrandes meuchelt Friedrich Joachim, der Verdacht fällt auf den liberalen Herbert Thalmann, Ehemann von Joachims Nichte Elisabeth. Das Machtgefüge verschiebt sich mit gravierenden Folgen, die die Beteiligten zunächst nicht absehen.

Der Film, in dem Helmut Berger in der Rolle des Martin von Essenbeck eine legendäre Travestienummer als Marlene Dietrich hinlegt, gilt als umstritten. Die für Visconti so wichtige ästhetische Dimension, das opernhaft Melodramatische, durchtränkt von Todessehnsucht, und die Faszination für das Monströse interessieren Kimmig nicht. Auch nicht die historisch fragwürdige Weise, wie der italienische Meisterregisseur den Faschismus mit einem zugespitzten Kapitalismus und der Erscheinungsform einer pervertierten Sexualität kurzschließt. Das sei doch eher intellektuelles 60er-Jahre-Geschwurbel. "Mir stellt sich die Frage, wie weit man hineingucken kann in diese Abgründe", so Kimmig. "Wie innerhalb dieser ehrgeizigen Familie jeder den anderen vernichtet, Ehen zerbrechen und die Unternehmensethik zerfällt." Darüber, was die Personen antreibt, soll der Zuschauer im Vergleich zum Film eher noch mehr erfahren.

Die Korrumpierung jeder Moral durch die Gier des galoppierenden Kapitalismus ist neben der Familie seit Langem Kimmigs Thema. "Vielleicht muss die Kunst die Zerstörung noch abgründiger und radikaler darstellen, sodass ein Gegensehnsuchtsentwurf entsteht", räsoniert er. Bei der Beschäftigung mit dem Stoff entwickle er ein starkes Verlangen nach Ideenfeldern wie Humanität und Empathie. "Bei diesen menschlichen Eigenschaften fängt für mich alles an. Jede Bildung oder intellektuelle Leistung nützt nichts, wenn ich kein Mitleid entwickle", meint Stephan Kimmig.

Im Konzept des Regisseurs übernehmen einige Darsteller mehrere Rollen. So spielt Markus John das Familienoberhaupt Joachim von Essenbeck, wie auch den Aufsteiger Friedrich Bruckmann, also Opfer und Täter, sowie den neurotischen Enkel Martin. Der Dualismus von Gut und Böse ist in allem angelegt, aber es geht darum, dass Menschen gleichwohl Optionen für ihr Verhalten haben.

Das Geschehen siedelt Bühnenbildnerin Katja Haß in einem offenen Setting an. Die Musiker Philipp Haagen und Michael Verhovec zeichnen mit ihren Instrumenten eine räumliche Landschaft. Kimmig wird mit der Technik seines unerbittlichen Heranzoomens an die Figuren auch in "Der Fall der Götter" dafür sorgen, dass der Stoff unmittelbar in der Gegenwart landet.

Er selbst ist nach zwei aufreibenden Jahren langsam in der Hauptstadt Berlin angelangt. "Jede Arbeit steht dort unter einem Wahnsinnsdruck, weil es dieses riesige Angebot gibt", sagt er. Die knapp neun Thalia-Jahre in Hamburg fühlen sich weit weg an, der Blick ist durchaus nostalgisch gefärbt. "Das waren absolut glückliche Zeiten."

Der Fall der Götter: Premiere Do 22.9., 19.30, Schauspielhaus (U/S Hbf.), Kirchenallee 39, Karten 10,- bis 62,50 unter Tel. 24 87 13 oder unter www.schauspielhaus.de