Prall, grell, komisch, tragisch: Stefanie Dietrich und Walter Plathe brillieren in “Der blaue Engel“ nach Heinrich Mann in der Komödie Winterhude.

Hamburg. Bunte Lampenketten blinken. Conferencier Kiepert schmettert sein "Wilkommen!" ins Parkett der Winterhuder Komödie. Das Publikum sitzt im anrüchigen Nepplokal "Der blaue Engel". Martin Rupprechts nostalgisches Bühnenkarussell beginnt zu kreisen, das Drama vom ehrbaren Lübecker Professor Rath kann beginnen. Klaus Gendries lässt Peter Turrinis Version von Heinrich Manns Roman "Professor Unrat" auf einer Jahrmarktsschaubude spielen: als tragikomische possenhafte Parabel mit Walter Plathe in der Paraderolle des bigotten Paukers. Er erobert mit verschämtem Werben und dem Charme eines bei unzüchtigem Tun ertappten großen Jungen die Diseuse Lola wie auch die Zuschauer.

Die Geschichte ist sattsam bekannt, der Sternberg-Film mit Emil Jannings und Marlene Dietrich hat die 1904 erschienene Satire auf wilhelminisches Spießertum, den Untertanengeist und preußischen Zuchtzwang berühmt gemacht. Peter Turrini war noch nie ein Feingeist.

Die Stücke des österreichischen Dramatikers sind nah am Volkstheater gebaut. Auch in seiner Bearbeitung des Romans benutzt er die scherenschnittartig scharfe Form der Figurenzeichnung und konzentriert sich auf die Konfrontation zweier unvereinbarer Welten: Fräulein Fröhlich aus der Gosse - das Objekt der Begierde von Gymnasiasten wie auch ihrem Lehrer - führt den "Klassenkampf" gegen die fahrendes Volk verachtenden "ehrbaren Bürger".

Stefanie Dietrich als Lola tut dies mit den Waffen einer Frau und spielt offenherzig ihre üppigen Reize aus: ein verdorbenes Unschuldskind des Tingeltangels, das vom Aufstieg träumt, sich aber verrechnet. Wie Dietrich und Plathe die schicksalhafte Begegnung anlegen, drängen sich geradezu Parallelen zu Heinrich Mann (1871-1950) und seiner zweiten Frau Nelly Kröger (1898-1944) auf: 1929 hatte der fast 30 Jahre ältere Schriftsteller die Animierdame in einer Berliner Bar kennengelernt - und geheiratet. Für die dünkelhafte, standesbewusste Mann-Familie die Mesalliance mit einer "schrecklichen Trulle" und "argen Hur", wie der nette Bruder Thomas seine Schwägerin nannte.

Plathe, dessen Maske mit Brille, Spitzbart und glatt zurückgekämmtem Haar an Heinrich Mann erinnert, zeigt ergreifend die Wandlung des selbstgerechten Zuchtmeisters. Vor Lola wird der Erstklässler in Sachen Erotik wieder zum Schüler: "Freilich, wohl", stammelt er, zitternd den roten Büstenhalter in Händen, die Antwort auf ihre Frage: "Wie Sie mich gebaut finden?" Seinen Gefühlen ausgeliefert, wird aus dem Peiniger von Pennälern ein gedemütigter Clown und Spielball in den Händen der skrupellos ums Überleben kämpfenden Schmierenkomödianten um den Zauberer Kiepert (ein mieser Zuhältertyp: Reiner Heise) und seine geschundene, pichelnde Frau (nicht mundtot zu kriegen: Maria Mallé). Die bittere Ironie: Der Herr Professor folgt zum ersten Mal dem "Gebot des Herzens" und geht an der Ehe mit Lola zugrunde. Ihren Warnruf "Nimm dich in Acht vor blonden Frau'n", hat er, geblendet von ihrem Sex-Appeal, überhört.

Stefanie Dietrich hält ihre unbekümmert-eigenwillige, vitale und zuweilen vulgäre Rosa Fröhlich in der Balance zwischen Berechnung und einer aufrichtigen Warmherzigkeit. Verführerisch macht sie sich frei und selbstbewusst vom Vorbild der Marlene, singt und spielt sehenswert eine persönliche Interpretation der viel strapazierten und zitierten Figur. Im Hollaender-Chanson "Ich weiß nicht, wohin ich gehöre" bringt die andere Dietrich berührend Ambivalenz, Einsamkeit und Sehnsucht von Lola auf den Punkt. Sie hält das ewige "Ringelspiel" der Liebe und des Lebens, in das Immanuel Rath geraten ist, so fröhlich wie unbarmherzig am Weiterdrehen.

Der blaue Engel bis 20.11., Komödie Winterhuder Fährhaus, Karten unter der Ticket-Hotline T. 30 30 98 98 und bei allen Hamburger Abendblatt-Ticketshops; www.komoedie-hamburg.de