Zeltlager scheinen in Zeiten von Billigfliegern, Pauschalreisen und Fernweh ein alter Zopf zu sein - und doch sind sie so populär wie ehedem.

Nachts scheint die Zeit stillzustehen. Wenn das Lagerfeuer lodert, prasselt, faucht, ist Schweigen. Müde sitzen wir auf unseren selbst gebauten Holzbänken und schauen den Zeigern der Armbanduhren beim Schleichen zu. Bleischwer drückt uns die Müdigkeit nieder, wir hängen wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Unsere trüben Blicke gleiten über das Lagerfeuer zum Banner, das über unseren Köpfen im Wind flattert. Ihm gilt die Aufmerksamkeit oder das, was nach einigen Tagen und verdammt kurzen Nächten Zeltlager noch an Aufmerksamkeit übrig ist. Der Wimpel ist eine Art Talisman des Lagers - ihn gilt es gegen nächtliche Angreifer zu verteidigen.

Das Banner ist ein archaisches Relikt, ein Spiel aus alter Zeit, doch davon lassen will keiner. 16 Jahre sind seit meinem letzten Zeltlager vergangen, und ich wundere mich, wie wenig sich verändert hat. Mit gemischten Gefühlen war ich zum Zeltplatz nach Calhorn im Landkreis Cloppenburg aufgebrochen. Was ist von den lichten Tagen der Jugend geblieben? Wie sehr haben sich meine Erinnerungen verklärt? Und wie fremd wird mir das Zeltlager der KJG (Katholischen Jungen Gemeinde) Wildeshausen sein, in dem ich nur noch zwei von knapp 80 Teilnehmern kenne, den hauptamtlichen Lagerleiter und ein einziges Kind, der Sohn eines Freundes?

Diese Zeitreise ist ein Paradoxon. Ich selbst bin um 16 Jahre gealtert, aber das Lager ist jung geblieben.

Sein Zauber bindet wieder, es ist der Zauber des wilden, unzivilisierten Lebens. Das Zeltlager war und ist eine Auszeit vom Alltag, ein Ausnahmezustand. Plötzlich gelten andere Gesetze. Geld spielt kaum eine Rolle, alle leben rund um die Uhr im Freien, die Zivilisation rückt in weite Ferne. Der technologische Fortschritt macht Pause - das ist heute so wie in den 80er-Jahren. Auch im 21. Jahrhundert haben die Teilnehmer keine Handys, sie schlafen in Zehn-Mann-Zelten auf klassischen Luftmatratzen, und unser Motto von einst gilt bis heute: einfach leben.

Wobei, ehrlich gesagt, das einfache Leben schon einmal einfacher war: Früher hatten mich weder die harte Bettstatt noch das Schnarchen der anderen, weder der strenge Geruch, eine Mischung aus Gummi, Gras und Fuß, noch die kriechende Kälte gestört. In dieser Nacht, nach 16 Jahren Pause, mache ich kaum ein Auge zu. Das geht zwar dem Rest im Lager ähnlich, aber die meisten wollen im Gegensatz zu mir auch gar nicht schlafen. Wir waren früher stolz, in zehn Tagen Zeltlager insgesamt unter 30 Stunden Nachtruhe zu bleiben. Inzwischen setze ich andere Prioritäten. Wenn es einen Unterschied zwischen 20- und 40-Jährigen gibt, ist es die Fähigkeit, auf Schlaf zu verzichten. Es mag eine senile Bettflucht geben, im Zeltlager existiert eine juvenile Schlafsackflucht - als ein Mittelalter ist man davon so weit entfernt wie das Mittelalter von der Moderne.

Überhaupt hat sich das Meiste nur in den Augen des Betrachters geändert. Das nächtliche Balgen um das Banner, das zumindest für die pubertierenden Jungs zweifellos der Höhepunkt eines jeden Zeltlagers ist, wirkt auf mich heute eher befremdlich. Aber es gehört einfach dazu, weiß auch Matthias Goldberg. Der 55-Jährige ist personell die einzige Konstante der Zeltlager des Jugendverbands KJG. Der Pastoralreferent ist seit 25 Jahren das Lageroberhaupt und hat in dieser Zeit mehrere Generationen durch die Zelte geschleust. "Es ist schwer, sich im Vorfeld immer wieder zu motivieren", gesteht er. "Und es ist gut, wenn man dann da ist." Daran hat sich auch nach dem doppelten Dutzend nichts geändert. "Man taucht in eine andere Welt ein - ein unbekümmertes Leben in der Natur, mit viel Spaß und Unsinn." Was nicht zu übersehen ist: Im Alter von 55 Jahren trägt er erstmals ein Tattoo, natürlich abwaschbar.

Eine Zeltlagergeneration dauert nur sieben bis zehn Jahre - dann sind die Besetzungen komplett durchgetauscht. Von der aktuellen Gruppenleiterbesetzung kenne ich keinen mehr - als sie erstmals als Kinder mitfuhren, trafen sie noch auf Leiter, die einst bei mir in der Kindergruppe waren. Es bedarf nur weniger Sätze und noch weniger Namen, um sich ganz schnell verdammt alt zu fühlen. Denn "meine Kinder" gelten hier als alte Säcke. Doch die Beweggründe der Gruppenleiter des Jahres 2011 unterscheiden sich wenig von denen von 1981 oder 1991. Das Suchtpotenzial des einfachen Lebens auf Zeit ist erheblich. "Ich bin sieben Lager als Teilnehmer mitgefahren, und irgendwie kann man einfach nicht mehr aufhören", sagt der 20-jährige Fabian Ahlers. "Jedes Jahr fiebert man aufs Lager hin." Heinrich Menneking beschreibt das Besondere so: "Am ersten Tag sammeln sich gut 60 Kinder einzeln oder in Grüppchen zur Abfahrt, bei der Heimfahrt kehrt eine einzige große Gruppe zurück." Gruppenleiterin Maria Krieger muss man fast bremsen, um ihre Beweggründe zu erfassen: "Die nächtlichen Angriffe und der Adrenalin-Schub, wenn wir das Banner retten", zählt die 21-Jährige auf, "die Begeisterungsfähigkeit der Teilnehmer" oder "die Gänsehautstimmung, wenn mal wieder ein altes Lagerlied am Feuer gespielt wird. Dieses Gefühl lässt sich mit keinem Geld der Welt bezahlen."

Ein Zeltlager verspricht immer auch Grenzerfahrungen, die manchmal wehtun, aber an denen man wächst, oder die unglaublich aufregend sind: Der Radausflug, der die Jüngsten auch mal überfordern kann, die bleierne Müdigkeit, die Nässe von zehn Tagen Dauerregen (anno 1991), aber auch die erste große Liebe oder das erste Bier, heimlich im Wald getrunken. Initiationsriten, die sich jeder Jugendliche sucht und die in den Sommerferien irgendwann anstehen.

Auch mich packen viele Erinnerungen, die tief verschüttet schienen und nun an die Oberfläche gespült werden. An diesem ersten Abend bekommen die Zeltlagernovizen eine Einführung in die ganz eigene Welt. Aufgeregt laufen die Jüngsten wie Aufziehpuppen über den Platz, bevor es endlich losgeht. Auf ihren Gesichtern spiegeln sich Spannung und Aufregung. In diesen Momenten entscheidet sich, ob man sein Leben lang nie mehr zelten möchte - oder immer wieder mitfährt.

Plötzlich sehe ich mich als Dreikäsehoch am Feuer sitzen, damals vor 30 Jahren, als ich mit einer Mischung aus Vorfreude und Angst den ersten Erklärungen der Leiter lauschte. Es ist alles noch wie früher, so als würden die Drehbücher für die Ferienfreizeit einem Kühlschrank entnommen - gut konserviert und trotzdem frisch.

Gruppenleiter Fabian Ahlers trägt die acht Paragrafen der Lagerverfassung vor, die ich 1992 mit verfassen durfte. Sie gilt seitdem als Grundgesetz der Tage der großen Freiheit. Sie gibt den Teilnehmern, egal ob dem Zehnjährigen Gruppenkind oder dem 25-jährigen Leiter, eine Stimme, erlaubt viel und verbietet wenig, das aber konsequent. Sie definiert Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und umweltfreundliches Handeln. Und auch wenn die heutige Generation das von uns einst verfügte Dosenverbot nicht mehr versteht, es bleibt in Kraft. Zudem verspricht die Lagerverfassung, was in eineinhalb Wochen auf jeden Fall dazugehört: ein Stationslauf etwa, das Strategiespiel Waldschach, ein geeigneter Fußballplatz, eine zünftige Wasserschlacht, aber auch ein Gewitter. Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sogar das Wetter von der Lagerverfassung beeindrucken lassen und seinen dramatischen Platzregen stets geliefert.

Als das Lagerfeuer brennt, kommt der Auftritt der Männer mit der Gitarre. Heute ist es ein Solist, der innerhalb weniger Minuten Heldenstatus erlangen wird wie die Generationen mit den Gitarren vor ihm. Am Feuer singen sie plötzlich alle mit, kleine Mädchen und große Jungs, die 62 Teilnehmer zwischen zehn und 16 Jahre, die 15 ausgebildeten Gruppenleiter, sie alle singen so schief wie schön. Früher hatten wir das rote Liederbuch Mundorgel, heute gibt es das Songbuch Holiday Hits. Doch selbst bei der Musikauswahl halten sich die Zeitläufte zurück. Einige der Klampfenlieder wie die der Sportfreunde Stiller oder von Pohlmann waren zu meiner Zeit noch nicht einmal geschrieben, andere wie das vom "In einen Harung" oder "Heute hier morgen dort" galten schon damals als Lagerfeuerschlager. Es gibt ein Gegenteil zum Begriff Mode. Er lautet Zeltlager. Es mutet fast seltsam an, dass in Zeiten des permanenten Wandels derlei Vorgestriges wie ein Zeltlager noch immer unverrückt abläuft - oder ist das sein Erfolgsrezept? Während professionelle Anbieter von Jugendreisen immer weiter in die Ferne streben und immer ausgereiztere Programme bieten, während selbst Schulausflüge mindestens ins Ausland gehen müssen, haben Zeltlager eine treue Anhängerschaft. Und was für eine: Ich entsinne mich eines Jungen, der Rotz und Wasser heulte, weil er das Lager einen Tag vorher verlassen musste - sein schweres Schicksal war eine USA-Rundreise mit den Eltern. Und dafür sollte er seinen Platz im Zelt eintauschen?

Die Ziele können es also nicht sein, die sind stets spektakulär unspektakulär und wiederholen sich im Abstand einiger Jahre. Fast immer liegen die Plätze in Fahrradreichweite von Wildeshausen. Ihre Namen wie Langendammsmoor, Quakenbrück oder Uphöfen klingen nach tiefster Provinz, für die Zeltlagerteilnehmer aber wie eine Verheißung. Schließlich geht es auch nicht um Sehenswürdigkeiten, sondern nur um ein schönes wildes Leben.

Als ich am Lagerfeuer sitze, fühle ich mich richtig jung und verdammt alt zugleich; ich werde wehmütig und dankbar - etwas wehmütig übers Alter und dankbar für viele Wochen der grenzenlosen Freiheit.