Am Sonntag singt der Shanty-Chor De Tampentrekker zur Eröffnung des Heidi-Kabel-Platzes. Einzige Frau: Anja Castillon am Akkordeon.

Hamburg. "Seit wann wir bei Ina Müller sind?" Hartmut Grossmann legt das gegerbte Gesicht schief, Richtung steuerbord, und zieht an seinem Zigarillo. Sein Mund, der von einem grauen Bart gerahmt wird, scheint den Tabakqualm wie Atemluft zu inhalieren. "Ich glaube seit 2007. Ich frag aber lieber noch mal nach", sagt er und ascht aufs Pflaster. "Loothaar!", ruft er in die Runde, die vorm Schellfischposten in der schwülen Sommerluft sitzt.

+++Deern an Bord+++

In der Kneipe dreht der NDR die Sing- und Talkshow "Inas Nacht". Und die älteren Herren, die da am frühen Abend beim Bier sitzen und klönen, stehen später, während der Aufzeichnung, vorm offenen Fenster der Spelunke und schmettern ihre Lieder. Wie sie es seit 1976 gemeinsam tun. Den "Hamborger Veermaster". Oder "Rolling Home". Maritime Klassiker. De Tampentrekker nennt sich der Shanty-Chor. Und seit "die Ina" sie für ihre Sendung entdeckt hat, haben diese singenden Seebären einen gewissen Starruhm erlangt.

"Joo, stimmt, seit 2007 sind wir dabei", sagt "der Lothar", Nachname Überall und seines Zeichens erster Vorsitzender. Sein Bart läuft als graues Band um Kinn und Wangen. Wenn alle anwesend sind, immer dienstags, zur Probe in Wilhelmsburg, zählt sein Gesangverein 41 Mitglieder. Und man geht mit der Zeit. Seit zwei Jahren besitzt der Chor ein ungemein innovatives Element in seinen Reihen. Eine Frau.

"Wir haben ja mal gesagt: Frauen kommen uns nicht auf die Planken", sagt Überall in breit schnackendem Tonfall (kein Wunder, denn er kommt "von Kiel wech"). "Aber wir brauchten ja noch jemand, der Akkordeon spielt", fügt er hinzu und verschränkt die Arme. Doch seinem gutmütigen Blick ist anzumerken, dass er um die weibliche Ergänzung auch ansonsten ganz froh ist.

"Die Anja mildert unser Zusammenleben ab", sagt Grossmann. Und "die Anja", Nachname Castillon, steht erst einmal einfach daneben und lacht sehr herzlich. Wie alle anderen trägt sie eine blau-weiß gestreifte Fischerweste überm weißen Hemd zum roten Halstuch. Nur, dass bei ihr eben braune lange Haare auf zierliche Schultern fallen. Wenn sie allerdings zum Spiel ansetzt, mit dem wuchtigen Instrument der Firma Hohner vor der Brust, wirkt sie stark. Das Kreuz ist durchgedrückt, die Finger ihrer Rechten fliegen über Tasten, die der Linken über Knöpfe. Und die Jungs in ihrem Rücken, die restlichen Tampentrekker, tun genau das, was ihr Name besagt: Sie ziehen gemeinsam an einem Strang. Akustisch. Mit reichlich Wumms. "Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern", tönt es aus den Kehlen. Hanseatischer Rock 'n' Roll ist das.

In der Viertelstunde, in der die bärtigen Barden samt Band an diesem Abend eine Kostprobe ihres Könnens geben, verdichtet sich das Geschehen am Hafen prototypisch. Erst fährt die "Deutschland" elegant und weiß vorüber, dann wendet die "Aidaluna", zum Greifen nahe. Die Kranführer auf der anderen Elbseite mögen derlei Spektakel gewohnt sein, die Schaulustigen in Altona aber knipsen und staunen.

"Die Lieder, der Chor, das ist so erdig, ehrlich, echt", erzählt Castillon einige Tage zuvor beim Kaffee in der Haifischbar, um die Ecke vom Schellfischposten. In der berühmten TV-Kneipe sind schon am Nachmittag alle Tische besetzt. Aber in der Nachbarschaft existieren zum Glück (noch) einige Ausweichlokale, die Matrosen- statt Yuppieflair im Herzen tragen.

Draußen schüttet es vom Himmel herab, drinnen sorgen ausgestopfte Fische, Schiffsmodelle und dekorativ arrangierte Tampen für maritime Gemütlichkeit. Ein ideales Ambiente für Castillons Geschichte. "Vor einigen Jahren bekam ich eine CD mit Seemannsliedern in die Finger", sagt sie. Die Sehnsucht, aber auch die Freude, die durch diese Stücke kreuzen wie stolze Segelschiffe, faszinierten sie so sehr, dass sie das alte Akkordeon vom Dachboden holte und zu üben begann. Doch statt sich im Keller zu verkriechen, wählte sie zur Inspiration eine amtliche Kulisse. "Es war Ostern und superschönes Wetter. Deshalb habe ich einfach an den Landungsbrücken geprobt und dort auch mein Köfferchen aufgeklappt. Wie ein richtiger Straßenmusikant."

Ihre Darbietung überzeugte. Der Gitarrist der Tampentrekker, der gerade dort spazieren ging, fragte sie spontan, ob sie nicht Lust hätte, bei seinem Shanty-Chor mitzumachen. "Meine erste Reaktion war: O Gott", erinnert sich Castillon und wirft die Hände hoch über den rustikalen Holztisch in der Haifischbar. Aber schnell sangen sich die rüstigen Herren in ihr Herz.

Mittlerweile, ja da würden ihre Kollegen vom Chor sie auf Händen tragen, etwa an ihrem 40. Geburtstag im Sommer, als ihr die Tampentrekker in ihrem Garten ein Ständchen brachten. Einige der Männer sind doppelt so alt wie sie, die meisten in Rente. Als Juristen, Imker, Eisenbahner und Zöllner haben sie gearbeitet, einer ist sogar zur See gefahren. Doch das Tor zur Welt und seine Lieder lieben sie alle. Zu hören ist das bestimmt auch, wenn De Tampentrekker diesen Sonntag zur Eröffnung des Heidi-Kabel-Platzes das Lied "Hammonia - Mein Hamburg, ich liebe dich" erschallen lassen.

Zudem wird der Chor beim Start der Eishockey-Saison am 16. September, wenn die Hamburg Freezers gegen Adler Mannheim spielen, erstmals Anfeuerungsgesänge in der O2-World anstimmen. Und wer weiß, vielleicht wird die Gruppe ja das, was Lotto King Karl für den HSV ist. Dass Hamburg ihre Perle ist, ist jedenfalls gewiss.

Eröffnung Heidi-Kabel-Platz So 4.9., ab 11 Uhr, Hauptbahnhof/beim neuen Ohnsorg-Theater