Heute hätte König Ludwig II. Geburtstag: Der schillerndste Herrscher der Welt. Der Visionär starb auf mysteriöse Weise vor 125 Jahren.

Es war einmal ein Mann, der so viel Fantasie hatte, dass er die ganze Welt in eine Utopie verwandeln wollte. Doch die Welt war noch nicht so weit und ließ den Visionär absetzen, vielleicht sogar ermorden. 125 Jahre ist diese Geschichte schon alt, aber sie ist immer noch nicht zu Ende erzählt, und die Leute wollen sie hören, heute lauter denn je. So wirkt es jedenfalls an diesem Augusttag um 15.01 Uhr im Schloss Herrenchiemsee. Die nächste Führung startet. Im Minutentakt werden Gruppen von bis zu 50 Personen in die Welt König Ludwigs II. (1845-1886) geschleust. Des Märchenkönigs, der in den USA genauso bekannt ist wie in Japan. Des bayerischen Superstars, den die Kinder dort heute schon in der ersten Klasse zeichnen und den die Frauen damals wegen seiner Größe (1,91 Meter) und seiner perfekt ondulierten Haare anhimmelten.

"Ich will Prinzessin werden", schreit ein Mädchen. Zwei Japaner lassen sich noch vor dem ersten Saal unter dem Schild "Notausgang" fotografieren. Ein Bayer nimmt in einer respektvollen Geste den Hut ab. Offiziell handelt es sich hier um eine Geschichts-Ausstellung, dennoch geht es gedrängter zu als beim letzten Take-That-Konzert. Wem das nichts sagt, der stelle sich die HSV-Logen vor wie an einem Spieltag gegen den FC Bayern, mit allerdings viermal so vielen Leuten wie zugelassen und Brokat an den Wänden.

"Die Räume platzen aus allen Nähten", hatte der Ticketverkäufer nicht ohne Stolz verkündet. Bis zu 5000 Leute kommen täglich mit Fähren auf die größte der drei Inseln im Chiemsee. Dort ließ Ludwig II. ein Abbild des Schlosses Versailles errichten, einen "Tempel des Ruhmes" als Andenken an sein großes Vorbild, den Sonnenkönig Ludwig XIV. aus Frankreich. Wunderschön und irgendwie bedeutend liegt das Schloss heute da, obwohl es nie vollkommen fertiggestellt wurde und der Monarch nur einmal darin gewohnt hat, für zehn Tage im Jahr 1885. Aber das ist nebensächlich.

Der König hat gerufen, das Volk kommt. "Götterdämmerung - König Ludwig II. und seine Zeit" hat gute Chancen, die erfolgreichste historische Ausstellung Deutschlands der vergangenen 30 Jahre zu werden. Daneben gibt es rund um München täglich Veranstaltungen und Konzerte zu Ehren des sogenannten Kini. Darunter Mondschein-Wanderungen, Seminare in "königlichem Kochen", Tanzkurse "in historischen Kostümen", Dampferfahrten zum Todesort sowie Marionettentheater "Ludwig II. - Nichts als die Wahrheit". Sie alle erinnern an den 125. Todestag des Wittelsbachers und machen ihn dadurch lebendiger denn je.

Seine Fans kommen aus der ganzen Welt. New York, Rio, sogar aus Hamburg. Vom Bürgertum geprägt, hat man in dieser Stadt traditionell wenig Erfahrung mit Adelsgeschichten, was das Spektakel auf Herrenchiemsee umso faszinierender macht für Norddeutsche. Nicht einmal Helmut Schmidt würden sie in einer Sänfte über den Rathausmarkt tragen; hier jedoch bewundert der Hanseat mit großen Augen blattgoldverzierte Bettpfosten, tonnenschwere Lüster oder den Paradeschlitten, mit dem König Ludwig II. gerne "bei magischem Mondenschein durch den düstern, schneebedeckten Tannenwald" fuhr, wie er selbst schrieb.

"Ein Märchenleben", flüstert eine Juristin aus Winterhude, und ihre Augen leuchten dabei wie der Schlitten, der seinerzeit der erste weltweit mit elektrischem Licht war. Ludwig II. war ein Technikfreak, immer auf der Suche nach den neuesten Erfindungen. Er hatte einen künstlichen Mond, der auf sein Bett schien. Eine Grotte, in der Wellen auf Knopfdruck erzeugt werden konnten, sowie ein echtes Tischleindeckdich. Mit der Vorrichtung konnte der gedeckte Tisch durch eine Falltür aus der Küche nach oben gekurbelt werden, sodass der König beim Essen ungestört blieb. "A real King!", befindet eine Dame aus England; "ein Prachtkerl", sagt ein Mann aus Rosenheim. Nach nur 30 Minuten mit dem Kini sind die Besucher schon zu Untertanen geworden. Gäbe es hier und jetzt eine Volksabstimmung, würde in Bayern das Königreich wiedereingeführt.

Die Macht der Monarchie ist im Jahr 2011 durch die Hochzeiten von Prinz William und Fürst Albert, die beide bürgerliche Frauen erwählten, größer denn je. Vielleicht rührt die Sehnsucht nach dem Royalen aus einer Enttäuschung über Politiker, die Doktorarbeiten fälschen (Guttenberg), uneheliche Kinder zeugen (Seehofer) oder zu junge Freundinnen haben (von Boetticher). Vielleicht ist ja die Zeit dafür - wie gerade die Petticoats in der Mode - einfach wiedergekommen. Soziologen sagen, dass die Globalisierung auch eine "Glokalisierung" mit sich bringe, also eine Wiederentdeckung des Regionalen und die Sehnsucht nach einer guten alten Zeit. Warum beispielsweise trägt heute fast jeder auf dem Oktoberfest Tracht? Das sah vor ein paar Jahren noch ganz anders aus. Und während die einen vielleicht Halbpornografisches von Charlotte Roche lesen mögen, wünschen sich andere lieber etwas, das nicht verstört, sondern verzaubert.

Ludwig liebte Illusionen. Würde er heute leben, wäre er ständig in Disneyland. Nicht ohne Grund entstand Disneys Cinderella-Schloss nach einer Vorlage von Ludwigs Neuschwanstein. "Neuwahnstein" spotten manche Kritiker über die real gewordene Utopie, aber auf die hört niemand, der einmal da gewesen ist, und das sind immerhin 1,3 Millionen jährlich. "Seine Schlösser sind Leuchttürme für Bayern und touristische Wahrzeichen für Deutschland", sagt der bayerische Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch. Die Gebäude werden heute von Ausländern wie Ikonen des typisch Bayerischen angesehen. Dabei wurden sie einst aus privaten Mitteln errichtet und sollten alles andere als öffentlichkeitswirksam sein. Ludwig II. baute sie als Rückzugsorte: "Es ist notwendig, sich solche Paradiese zu schaffen, solche poetischen Zufluchtsorte, wo man die schauderhafte Zeit, in der wir leben, vergessen kann." So entstanden die schönsten und teuersten Verstecke der Welt. Parallelwelten, die früher wie gigantische Theaterkulissen gewirkt haben müssen. Denn wo heute Besucher zwischen Porzellanschwänen, Jagdgewehren und Samtvorhängen bewegen, herrschte damals absolute Einsamkeit.

Es gab nur einen Protagonisten: Der König war Hauptdarsteller und Regisseur zugleich und wollte niemanden um sich haben außer einer kleinen Entourage. Dazu gehörten viele Jahre lang Sissi, die Kaiserin von Österreich, und Richard Wagner. "Der einzige Quell meiner Freuden" nannte ihn Ludwig in einem der rund 600 Briefe und Telegramme, die zwischen den beiden hin- und hergingen. Mit seiner Verehrung und seinem Geld sorgte Ludwig II. erst dafür, dass der bis dato unbeachtete Komponist Werke wie "Der Ring des Nibelungen" schaffen konnte. "Götterdämmerung" heißt daher der Titel der Ausstellung, in der es wie in Wagners Stück auch um einen Untergang geht.

Ludwig II. wusste, dass er sich in einer Zeit des Umbruchs befand, die seinen Traum vom Absolutismus längst vom Thron gestoßen hatte. Eines der wesentlichen Exponate der Ausstellung, die noch bis zum 16. Oktober läuft, ist der "Kaiserbrief" von 1871. In ihm akzeptiert Ludwig II. die preußische Vormacht, was das Ende der jahrhundertealten Souveränität Bayerns besiegelte. Dieses Opfer wurde ihm allerdings vergoldet: Bismarck veranlasste immer wieder Zahlungen, die der König zum Bau seiner Schlösser benötigte.

"Dann war es ja Bestechung", sagt ein Ausstellungsbesucher entrüstet. Der Führer zuckt zusammen. Richtig sauer wird er schließlich, als er nach seiner seltsamen Erklärung, warum der König in einer Zeit der arrangierten Ehen die Verlobung mit seiner Cousine Sophie Charlotte kurzfristig absagte ("Ludwig hatte erkannt, dass sie nicht die Richtige war"), gefragt wird: "Aber wollte er nicht eher darum nie heiraten, weil er schwul war?" Die Frauen verehrten Ludwig, umgekehrt sah es anders aus. Schon die Zeitgenossen wussten von seiner Homosexualität, heute ist es längst bestätigt, für konservative Royalisten scheint es aber ein wunder Punkt zu sein. "Ich glaube, Sie sind nicht in meiner Gruppe!", lässt der Führer die Fragende stehen. Einmal Außenseiter sein wie Ludwig II. - auf seinen Spuren wird es überraschend schnell möglich.

Die "Götterdämmerung" möchte dem königlichen Mythos auf den Grund gehen. Dieses Ziel wird zum Glück verfehlt. Nach dem Rundgang weiß der Besucher zugegebenermaßen viel mehr, die Anzahl der Fragen ist jedoch mitgewachsen, und genau deshalb ist die Ausstellung so erfolgreich. Je näher man Ludwig II. kommt, desto unbegreiflicher scheint er. Wer war dieser Mann? Warum fasziniert er die Menschen noch heute? Die Antwort ist klar: Eines der wichtigsten Merkmale des Stars ist das Geheimnis. Und das beherrschte Ludwig II. wie kein anderer. "Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen", schrieb er 1876 in einem Brief.

Der Märchenkönig ist nicht nur wegen seiner Schlösser einer, sondern auch wegen der Märchen, die bis heute über ihn erzählt werden. Mit der Geburt geht's schon los: Der kleine Prinz sei gar keiner, da sein Vater zeugungsunfähig gewesen sei, ein befreundeter Offizier habe einspringen müssen. Ludwig gebe Dinner für imaginäre Freunde wie Madame Pompadour oder Marie Antoinette. Auf der Roseninsel im Starnberger See würden Orgien mit seinen Lovern gefeiert. Er sei abhängig von Schmerzmitteln wegen seiner schlechten Zähne. Er wolle auswandern und in Afghanistan ein neues Königreich aufbauen. Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind.

Sogar Ludwigs Anhänger sind geheimnisvoll, allen voran die Guglmänner. In gespenstischer schwarzer Kluft, mit einer Kapuze über dem Kopf (der sogenannten Gugl) tauchen sie überraschend zu besonderen Anlässen auf und fordern die endgültige Untersuchung der Todesursache von Ludwig II. Kein Mitglied des hierarchisch organisierten Geheimbundes verrät je seinen Namen, neue Mitglieder werden streng ausgewählt. Einem telefonischen Interview mit dem Hamburger Abendblatt stimmen die Hüter der Monarchie schließlich doch zu. "Ludwig wurde umgebracht, und eines Tages werden wir es beweisen können", sagt ein Mann, der seiner Stimme nach zu urteilen um die 60 Jahre alt sein müsste.

Die offizielle Version, die am 14.6.1886 verkündet wurde, geht anders: Der König habe sich in den Starnberger See gestürzt und sei ertrunken. Neben seiner Leiche fand man die des Psychiaters Gudden, der ihn bei seinem Spaziergang begleitete. "Aber wie soll jemand in so seichtem Wasser ertrinken, zumal der König ein hervorragender Schwimmer war", sagt der Guglmann. Lebensmüde sei er ebenfalls nicht gewesen, wenngleich er Grund dazu gehabt hätte. Zwei Abende zuvor wurde Ludwig aufgrund eines Gutachtens, das ihn für verrückt und nicht mehr zurechnungsfähig erklärte, in Neuschwanstein gefangen genommen und nach Schloss Berg an den Starnberger See gebracht. Dabei hatte ihn keiner der Ärzte, die seine Unzurechnungsfähigkeit bescheinigten, je getroffen.

"Es gibt viele weitere Eigentümlichkeiten, die auf eine Verschwörung hindeuten", sagt der Guglmann. Der Mordtheorie zufolge wollte Ludwig zu einem Kahn schwimmen, der ihn zu einer Fluchtkutsche bringen sollte. Auf dem Sterbebett habe ein Arzt von Schusswunden in Ludwigs Rücken berichtet, über die er auf Befehl des Justizministeriums schweigen musste. "Wir fordern, den Sarg endlich zu öffnen, dann wissen wir mehr."

Aber das wollen längst nicht alle. "Ohne den Mythos hätten wir doch nichts zu erzählen", sagt Volkmar Stöffl, der mit seinem Bootsverleih am Chiemsee "romantische Abendfahrten auf den Spuren von König Ludwig" unternimmt. "Hier in der Gegend leben wir fast alle von ihm."

Genauso sieht es Heimatpfleger Franz Burghardt aus Breitbrunn, der ein Ludwig-Konterfei auf seiner Lederhose trägt und eine sehr unterhaltsame Führung namens "Pssst, da Kini kimmt" anbietet. So hieß es unter den Einwohnern früher, wenn der Regent sich nachts nach Herrenchiemsee übersetzen ließ, und alle heimlich einen Blick auf ihn zu erhaschen suchten. "Er war außergewöhnlich. Zeigen Sie mir einen Monarchen, der sein Geld wie er für Schlösser anstatt für Kanonen ausgegeben hat", sagt Burghardt und steht am Ufer unter einem Fahnenmeer, auf dem ausnahmslos der Kini abgebildet ist. Er sei eine Projektionsfläche für Träume und einfach zeitlos, glaubt der Guglmann: "Käme heute jemand vom Mars vorbei, würde er nicht denken, dass Ludwig tot ist und Bayern keine Monarchie mehr."