Boris Charmatz und das Musée de la danse glänzen mit “Enfant“ beim Sommerfestival

Hamburg. Der Raum eine einzige schwarze Höhle. Erst bei genauem Hinsehen sind drei reglos am Boden liegende Tänzer zu erkennen. Einziges Geräusch ist lange Zeit jenes langsame Klicken, das den Seilmechanismus der Maschine bedient. Langsam schält sich aus der installativen Stille die Bewegung. Die Maschine zieht Tänzer in die Höhe und legt sie wieder ab. Später werden sie zum Spielball auf einem rasselnden Rollband.

So hat man Tanz in Hamburg lange nicht gesehen. Schon das Intro verlangt dem Zuschauer einiges an Abstraktionsvermögen ab. Kein lieblicher Effekt, keine synchrone Bewegung und keine Farbenpracht schmeicheln dem Auge, das sich so gern verführen lässt. Stattdessen sieht es Bilder, die aufwühlen und lange nachwirken. Das ausverkaufte Gastspiel "Enfant" von Boris Charmatz und dem Musée de la danse, eine Koproduktion mit dem Internationalen Sommerfestival Hamburg, überzeugte nach der Uraufführung beim Festival d'Avignon nun auch auf Kampnagel, der zweiten Station. Der Transfer vom Ehrenhof des Papstpalastes in die Halle erwies sich als Gewinn. Ebenso die Reduktion der mittanzenden Kinder von 26 auf zehn. Sie bereiteten den Boden für ein genaues Hinsehen.

Denn "Enfant" ist vor allem ein penibel geordnetes Chaos mit vielen simultanen Schauplätzen. Neun schwarz gekleidete Tänzerinnen und Tänzer tragen Kinder, die wie schlafende Puppen wirken. Sie halten sie eng umschlungen, schleifen sie über den Boden, schütteln sie hin und her, als wären es leblose Marionetten, oder schließen sich zu Tableaux vivants zusammen. Es sind Bilder von ungeheurer Wucht. Häufig schwer auszuhalten, weil sie Assoziationen des Ungeheuerlichen, der Bedrohung wecken, ohne jemals konkret zu werden. Charmatz beherrscht die Kunst, mit kleinsten Justierungen die Dramaturgie dieser auf den ersten Blick spröden Produktion stetig voranzutreiben, die Schraube der Intensität immer weiter anzuziehen.

Auch den Ohren bietet sich kein Ausweg. Kinderstimmen der noch immer schläfrigen Kinder montiert Charmatz nach Art von Hitchcocks Horror-Klassiker "Die Vögel". Zu einem tonlosen Beat erklingt Michael Jacksons Hit "Billie Jean", in dessen Text die Zeile "But the kid is not my son" von emotional mindestens schwierigen Verhältnissen kündet. Nein, die Kindheit ist kein Ort fröhlichen Dauerlachens. Aber wenn die Kinder sich im letzten Drittel erheben und Kontrolle über die Erwachsenen übernehmen, hat die Dynamik des Lebens auf wunderbare Weise obsiegt. Es lohnt sich, künstlerische Risiken einzugehen. Das hat dieser Abend eindrucksvoll gezeigt.