“Das Bastardbuch“ ist ein Bericht aus der Lebenswerkstatt des Regisseurs Hans Neuenfels - und Literatur. Morgen liest er in Hamburg.

Hamburg. Was für ein brillanter, verstörender, aufstörender Titel für die Autobiografie eines 70-Jährigen: "Das Bastardbuch". Altem Sprachgebrauch zufolge sind Bastarde uneheliche Söhne, gezeugt von einem höhergestellten Mann und einer Frau niederen Standes. Heute hört man Bastard fast nur noch als Schimpfwort. Hans Neuenfels, am 31. Mai 1941 in Krefeld geboren und eine der großen Theater- und Opernregiefiguren der vergangenen 50 Jahre, war das Einzelkind einer soliden bürgerlichen Ehe zwischen gesellschaftlich Gleichgestellten. Bleibt das Schimpfwort, die provokante Selbstbezichtigung, auch die Beschimpfungserfahrung des Theaterprovokateurs.

In den 500 Seiten umfassenden "Autobiografischen Stationen" (Untertitel) spielt Neuenfels wiederholt mit der Metapher des (Fort-)Gejagten, des Räudigen. Tatsächlich ist er aus manchen Theatern geflogen und bekam Hausverbot, weil bereits seine frühen Aufführungen Skandale provozierten. Der letzte liegt ein paar Jahre zurück, ist aber unvergessen: Weil der Regisseur am Ende seiner Inszenierung von Mozarts Oper "Idomeneo" an der Deutschen Oper Berlin neben Buddhas, Poseidons und Jesu Kopf auch den Mohammeds rollen ließ, wurde die Wiederaufnahme 2006 aus Furcht vor islamistischen Protesten abgesetzt.

Im Rückblick auf sein Leben schaut Neuenfels in den Spiegel und erkennt auch im alternden Mann noch den ewig frei laufenden, streunenden Hund, der niemandem gehört, niemandem gehören will, keiner Schule, keinem Dogma, keiner Ästhetik. Man spürt den Stolz des Ausgesetzten, dafür Unvergleichlichen, der auch ein Spieler ist, freudevoll und gewissenlos: "Ich bin ein Bastard mit eigenen und gänzlich anderen Gesetzen", schreibt Neuenfels einmal in Abgrenzung zum einwandfreien Stammbaum seines im Sterben liegenden Hundes. Doch diese neuenfelsenfeste (das Wort stammt von ihm) Selbstverortung behält ihre Gültigkeit natürlich auch im Reich der Menschen.

Das Buch hebt an als großer literarischer Wurf. Mit der Schilderung seiner Kindheit und Jugend zieht Neuenfels den Leser mitten hinein in ein Leben, das trotz der rheinisch-katholischen Bürgertumsenge groß zu werden verspricht, hauptsächlich dank des Wirkens einer mit der Mutter befreundeten Sängerin, von Hans Neuenfels nur die "Fee" genannt. Sie wird seine Beschützerin und Mentorin.

"Ich bin neun und neugierig und heiße Neuenfels", notiert er als Kind. Das humanistische Gymnasium erlebt der Bildungshungrige als Freiraum, in dem er seinen Geist schärfen kann. Mit sicherem Gespür sondiert Neuenfels Bruchstellen und kathartische Momente seines Werdens. Er erzählt mit Witz und einer Sprachmacht, die Beobachtungen in der Außenwelt so präzis verlebendigt wie seelisches Geschehen.

Je näher das Buch der Gegenwart rückt, desto weniger nimmt einen der Rausch des Erzählens gefangen. Dafür bietet es eine Fülle von erhellenden Selbstauskünften über das Regietheater, das Neuenfels wesentlich mitgeprägt hat, wobei der Begriff für ihn gewiss kein Halsband ist, an dem eine Leine festzumachen wäre. Beim Lesen wächst ein aus zahllosen Pinselstrichen zusammengesetztes Selbstporträt dieser monolithischen Künstlerfigur, die mit einer unvermindert gewaltigen, oft selbstquälerischen und gewiss auch manche seiner Mitarbeiter quälenden Leidenschaft immer wieder und immer neu nach der die jeweilige Zeit reflektierenden, also jetzt notwendigen Bühnenrealisation von Literatur sucht.

Dabei spart Neuenfels, fast zeitlebens schwer nikotinabhängig und ein treuer Freund der Flüssignahrung zu jeder Tageszeit, das Private nicht aus, ohne doch je damit hausieren zu gehen. Wir lernen einen Team-Brausekopf mit hoher Begabung zur Freundschaft kennen (zu seinen engsten Mitstreitern zählte auch der unvergessene Schauspieler Ulrich Wildgruber), der seinem Hund Eugen ein besseres Herrchen war als seinem Sohn Benedict ein Vater, zumindest bis der in die Pubertät kam und Hans Neuenfels richtig was mit ihm anfangen konnte. 75 Prozent der Erziehungsleistung schreibt er denn auch seiner Frau Elisabeth Trissenaar zu, mit der ihn 50 Jahre einer innigen, sehr klug und tiefgründig beschriebenen Lebenspartnerschaft verbinden.

Im "Bastardbuch", das Abrechnung mit Widersachern nur in Ausnahmefällen ist, leistet Neuenfels auch Abbitte für die von ihm plötzlich, stumpf und stumm beendete Verbindung zum Künstler Max Ernst, für den er eine Zeitlang in Paris als Assistent arbeiten durfte. Es ist der Mut zum biografisch Unerklärbaren, auch Beschämenden, das einem diesen selbst ernannten Bastard näherbringt - und seine Kunst.

Hans Neuenfels liest morgen, 20 Uhr, im Literaturhaus aus "Das Bastardbuch" (Bertelsmann)