Gunther Geltinger führt auf Sylt eine große Tradition fort. Seine Zeit will er nutzen, weiter nach der Wahrheit in den Dingen zu forschen.

Rantum. Gunther Geltinger hat eine Rhabarberschorle bestellt, blass und altrosa ruht die Flüssigkeit im Glas. Es bleibt unberührt. Der Himmel über Sylt ist wolkenverhangen. Das Watt da draußen vor den Fenstern liegt glatt und grau.

Gunther Geltinger, 37, ist Autor, Schriftsteller, und er ist für dieses Jahr Inselschreiber auf Sylt. Zwei Monate darf er bei freier Logis auf der Insel verbringen, um - was sonst - zu schreiben. 2500 Euro zahlt ihm die "Syltquelle" in dieser Zeit, ein Stipendium, wichtig für junge Autoren. Geltinger steht dabei in illustrer Tradition: Moritz Rinke und Juli Zeh haben bereits das Stipendium erhalten, Feridun Zaimoglu, Thomas Hettche, Jenny Erpenbeck und Franzobel, um nur einige zu nennen.

Bislang einen Roman hat Geltinger herausgebracht, "Mensch Engel" erschien 2008 und ist eine stark autobiografische Geschichte der Selbstfindung, in der die Hauptfigur Leonard Engel lernt, sich mit seiner Homosexualität in der Gesellschaft zu positionieren. Von der Kritik wurde das Buch überwiegend positiv aufgenommen, es war für den "aspekte"-Literaturpreis nominiert, Geltinger erhielt verschiedene Stipendien, las auch schon in Klagenfurt, wenngleich mit wenig Erfolg.

Durch die bodentiefen Fenster des rondeelartigen Restaurants der "Syltquelle" fällt matt das Tageslicht. "Ich bin ein Sucher", sagt er, angesprochen auf seine vorrangige Charaktereigenschaft. Das blonde Haar trägt er kurz geschnitten, vorsichtig in die Stirn gekämmt, dezent nach Art der Cäsaren, was Geltinger ein wenig asketische Strenge ins Gesicht zeichnet. Er ist ein Suchender ohne konkretes Ziel, einer, der das "Wesentliche" in der Literatur zu entdecken trachtet, der nach "einer persönlichen Wahrheit in den Dingen" forscht. So wenig konkret seine Suche zu sein scheint, man glaubt ihm den inneren Antrieb, aus dem heraus sich diese Suche speist. Denn Geltinger - die Eltern sind beide Germanisten, die Mutter zudem Historikerin - ist kein Mensch der leichtfertigen Antworten. Wenn er überlegt, schwillt an der linken Stirnseite kurz vor dem Haaransatz eine Ader.

Die Suche ist der Weg, den er gehen muss. Da ähnelt er ein wenig der Figur des Siddharta in Hermann Hesses berühmtem Roman, auch eine Geschichte der Selbstfindung, der seelischen Verortung in der Welt. "Schreiben ist gut, Denken ist besser, Klugheit ist gut, Geduld ist besser", heißt es dort an einer Stelle.

"Da ich ein sehr ungeduldiger Mensch bin, ist das Schreiben als sehr langsame Fortbewegung eine gute Methode, mich zu bremsen." So sei ihm halt der Weg das Ziel, sagt er, und findet derart doch noch eine Definition für sein ganz eigenes Lebensziel, das letztlich darin besteht, sich nicht festlegen zu wollen. Manchmal blicken seine Augen ein wenig traurig, wenn er spricht, die Worte punktgenau wiegend, und das liegt weniger daran, dass sich der Himmel auf seiner Netzhaut spiegelt. Ein Himmel, der unermesslich weit scheint auf Sylt, unter dem sich eine Natur birgt, die für Geltinger auch Heimat ist wie die Stille und ihn animiert zu schreiben. "Der Wunsch, dem, was ohne Worte zurechtkommt, Sprache zu geben" - die Ansprüche, die Geltinger an seine Literatur stellt, sind nicht eben gering.

Gunther Geltinger wuchs in der kleinen Ortschaft Erlenbach am Main nahe Frankfurt auf, in einer Gegend, gekennzeichnet von "einer unguten Mischung aus Urbanität und Provinzialität". Eine kleinbürgerliche Zone, in der er "immer die Beobachterposition innehatte" und sich als Außenseiter empfand, obwohl, von Freunden umgeben, er nie einer war. Dort begann er zu schreiben, was ihm immer eine "Gegenmaßnahme" war "gegen die Langeweile der Jugend, gegen den Cliquenzwang", der herrschte in jenen Jahren. Wenn Geltinger, der heute mit seinem Freund in Köln lebt, von seiner alten Heimat erzählt, dann klingt es durch, dieses irgendwie gerollte R, das nicht fränkisch ist und nicht hessisch, sondern von der Großmutter stammt, siebenbürgisch-sächsisch gefärbt. Ein Familien-R also. "Mein Akzent ist der Schatten meiner Heimat", nennt Geltinger das.

Kaum die Schule gemeistert, zog es ihn fort, nach Wien, wo er an der Filmhochschule studierte, anfangs Regie, später Drehbuchschreiben. Den starren Regeln eines Drehbuchs aber konnte er sich nicht unterordnen, 300 Seiten stark war sein Drehbuch, das er zur Prüfung vorlegte. "Das wären etwa sechs Stunden Film gewesen", sagt Geltinger lachend. Doch es sollte sein: Eines Tages kam sein Professor zu ihm, warf ihm das Drehbuch auf den Tisch mit den Worten: "Es ist ein Film!" In Gottes Namen, geschafft.

Da hatte sich der Filmstudent Geltinger bereits wieder seiner eigenen Art des Schreibens zugewandt, allein dem Moment verhaftet, sich der Kontinuität und Stringenz verweigernd. Und er führte in den Jahren fort, was er als Siebenjähriger begann, als er seine erste Kurzgeschichte niederschrieb. Sie erzählt von einem Weihnachtsbaum, der sich aus dem Wohnzimmer heraus mit einer Tanne im Garten unterhält. Sie streiten darüber, wer denn nun das bessere Schicksal teile - der festlich geschmückte Baum oder die mit Schnee beladene Tanne, die zwar weniger schön ausschaut, aber lebendig ist.

Die alten Texte. Seine Mutter hat sie sorgsam in einer Schublade aufbewahrt. "Ja", sagt Geltinger, "ich würde sie gern einmal wieder lesen." Was ein wenig melancholisch klingt.

Auf Sylt ist Erlenbach fern. Auf dieser Insel der vermeintlich Schönen und gewiss Wohlhabenden sitzt Gunther Geltinger nun, ein Mensch, der allem Materiellen, wie er sagt, wenig Wert beimisst, und schreibt an seinem neuen Roman, 400 Seiten hat er bislang geschafft, eine Mutter-Sohn-Geschichte, also wieder Selbstfindung.

"Ich muss mir noch etwas einfallen lassen, um die Geschichte zu verschlanken", sagt er und lacht dieses jungenhafte Lachen, das seinen Urheber als jemanden ausweist, der dem Alter ein Schnippchen schlagen will, vielleicht weil er Angst hat vor dem, was die Zukunft bringt.

Dann bricht Geltinger auf, um über die Insel zu wandern, zum Strand hin, zum Meer. "Ich darf hier sein und suchen. Das ist schön." Vereinzelt blitzen Sonnenstrahlen durch die tief hängende Wolkendecke. Das Watt, es leuchtet.