Debütant Albrecht Selge lässt seinen Helden in “Wach“ durch die Straßen Berlins wandern

Mit das Beste an dem am 14. September beginnenden Harbour Front Literaturfestival ist der Debütantensalon auf der "Cap San Diego": zehn Autoren, die ihr erstes (oder ausnahmsweise zweites) Buch veröffentlicht haben und miteinander um den Klaus-Michael-Kühne-Preis konkurrieren. Der ist mit 5000 Euro dotiert; im vergangenen Jahr erhielt Inger-Maria Mahlke sie für ihren Roman "Silberfischchen".

Einer der Bewerber in diesem Jahr ist Albrecht Selge. Das erste Werk des im Literaturwettbewerb Open Mike gestählten Mittdreißigers trägt den Titel "Wach" und ist eine ganz bestimmte Sorte Asphaltliteratur: Das knapp 250 Seiten starke Buch spielt auf den Straßen einer Stadt, die leicht als Berlin zu identifizieren ist. In "Wach" wird der Alltag für den Helden August zu einer schier endlosen Übung der Langsamkeit: Er wandert unaufhörlich über die Straßen Berlins. Weil er Narkoleptiker ist, finden seine Märsche oft nachts statt. Dabei ist er kein Flaneur alter Schule, sein Marschieren ist kein Lustwandeln, sondern ein stoisches "Immer weiter", wohin auch immer. August ist Manager in einem Einkaufszentrum. Von seiner Freundin hat er sich wohl getrennt, genau erfährt man das nicht. Sie ist in London und ruft ihn oft an, ohne dass er je abheben würde. Dafür übernachtet er bei einer Crêpe-Verkäuferin und führt Dialoge mit dem skurrilen Chef. Derlei ist bemerkenswert, wenn die meiste Zeit stumm bewältigt wird.

Worte findet der gute Mann nur, wenn er den depperten monatlichen Newsletter des Einkaufszentrums formuliert. Er beobachtet Menschen mit beinah peinlichem Interesse, er prägt sich die Orte und ihre dingliche und menschliche Einrichtung ein. Er sammelt Bilder und Erlebnisse "oder wenigstens ihre Schatten und Echos".

Klingt deprimierend? Ist es auch. Auf der Straße ist August Kreutzer ein Namenloser, ohne Ziel, ohne Lebenssinn. Er ist ein Voyeur, und nicht nur das führt in den Bereich des Sexuellen. So anonym der Wanderer auf seinen Märschen ist, so sichtbar ist er im World Wide Web. Dort allerdings ausgerechnet auf Pornoseiten. Wer surft da unter seinem Namen? Der Schluss ist gelungen, bis dahin muss man sich aber damit arrangieren, dass Gänge über Straßen, auf denen kaum etwas passiert, der Mittelpunkt der Handlung sind.

Albrecht Selge: Wach . Rowohlt. 256 S., 19,95 Euro. Lesung auf dem Harbour Front Festival am 22.9., 18 Uhr, "Cap San Diego"