Dimiter Gotscheff inszeniert “Immer noch Sturm“, die verzweifelte Suche nach historischer Gerechtigkeit, bei den Salzburger Festspielen.

Salzburg. Erschöpfung und Glück kämpften auf der Bühne und im Publikum um den Vorrang, als nach vier Text- und Theaterstunden von Peter Handkes Uraufführung "Immer noch Sturm" auf der Pernerinsel in Hallein das Licht ausging. Die Salzburger Festspiele in Koproduktion mit dem Thalia-Theater brachten das Stück unter der Regie von Dimiter Gotscheff zur Welt, nachdem eine Inszenierung von Claus Peymann im Vorfeld gescheitert war.

Um es vorwegzunehmen: Der Jubel war groß und verteilte sich auf Ensemble und Regieteam gleichermaßen; auch Peter Handke kam auf die Bühne und holte sich seinen Teil ab.

Sprachlich ist ihm mit "Immer noch Sturm" (der Titel in Anlehnung an einen Vers aus Shakespeares "König Lear") ein Meisterstück gelungen: ein dichtes Geflecht aus trügerischen Erinnerungen, die immer neu gesichtet und geprüft werden, verworfen, präzisiert. Die aus Schnipseln, aus dem Nebel des Ungefähren, des Verdrängten, des Geschönten zu immer neuen Wahrheitsmöglichkeiten zusammengesetzt werden, bis sich das Anliegen des Autors, der im Stück als namenloses "Ich" auftritt, immer deutlicher herausschält.

"Ich" sucht nach den unterdrückten Wahrheiten seiner Existenz, seiner Kindheit und seiner Familie. Der Vater, ein Hitler-Soldat, die Mutter, die wegen dieser Liaison von der kärntnerisch-slowenischen Familie schräg angesehen wurde. Zwei Onkel, die in der deutschen Wehrmacht dienten und fielen, eine Tante, die als Partisanin gegen Hitler ums Leben kam. Der Kulturkampf der Kärntner Slowenen, die bewaffneten Widerstand gegen die Nazis leisteten und nach dem Krieg erneut unter die Räder der österreichischen Verdrängung kamen. Handke arbeitet sich an den unauflösbaren Verschränkungen dieser Themen in seiner Person redlich ab, deckt auf, formt neu, träumt sich eine neue Vergangenheit und einen zukünftigen Frieden.

Gotscheff zeichnet diese mehrfachen Häutungen der Erinnerung treulich nach, obwohl dem Text Handkes für die Bühne einige Kürzungen nicht geschadet hätten. Gotscheff nimmt das Publikum mit auf eine Reise zum Verdrängten und macht klar, wie mühsam, wie gefährdet sie immer wieder ist. Katrin Brack hat dazu als Bühnenbild einen gewaltigen Schnipselregen gefunden: Dreieinhalb Stunden lang flattern grüne Papierchen auf die Darsteller, bleiben als grüner Kreis in der Bühnenmitte liegen - ungeheuer viel Material, so wie die vielen Wörter und Erinnerungsschnipsel, aus denen sich spät eine neu konstruierte Wahrheit knüpft.

Die Schauspieler bewältigen die Aufgabe grandios, einerseits Marionetten der Gedanken des Handke-"Ich" zu sein, andererseits dessen Imagination immer wieder zu überschreiten, sie zu weiten und auf neue Pfade zu locken (beeindruckend: Bibiana Beglau als Partisanin, Hans Löw als lebenslustiger Onkel Valentin, Gabriela Maria Schmeide als gottergebene Großmutter, Oda Thormeyer als pragmatische Mutter und Jens Harzer als "Ich", der am Ende noch einen gut halbstündigen Monolog mit etwas zuviel lexikalisch-historischem Zeigefinger hinlegen muss). Schicht für Schicht tragen sie verfälschte, schöngeredete, verdrehte Erinnerungen ab, arrangieren sich mit dem, was darunter zum Vorschein kommt, nur um festzustellen: Auch das ist nur ein Teil der Wahrheit, ja: Wahrheit ist immer nur das, was eine konkrete Person aus dem macht, was sie erlebt.

Handke wird nicht müde, dem Zwiespalt von heiler Heimat, intakter Natur und einer funktionierenden kleinen Ethnie einerseits und ihrer Enge, ihren Verlogenheiten und ihren Brüchen nachzuspüren. Er verteilt seine Sympathien dabei gerecht, schließlich hat jeder Motive dafür, so zu agieren, wie er das tut. Und die anderen haben eigene Gründe, diese Person so oder anders zu sehen. Wo also ist die Wahrheit?

Vielleicht darin, dass man sich im Verlauf eines Stückes wie "Immer noch Sturm" genau dessen bewusst wird: Wie brüchig, wie vorläufig Erinnerungen, Ansichten, am Ende sogar Geschichtsbücher sind. Wie sehr das, was passiert, nur deswegen passiert, weil sich Menschen für oder gegen etwas entscheiden. Und wie selten das, was passiert, sich in den einfachen Kategorien von Gut und Böse fassen lässt.

Das könnte man auch auf den 166 Seiten der Suhrkamp-Ausgabe nachlesen. Die Anstrengung, die es kostet, sich selbst und einen eigenen Weg zu finden und zu behaupten - die bringt der lange und an manchen Stellen ermüdende Theaterabend sicher deutlich besser zum Vorschein.

Immer noch Sturm Premiere in Hamburg: Sa 17.9., 19.00, Thalia-Theater