Glänzender Auftakt des Internationalen Sommerfestivals Hamburg mit Pina Bauschs Tanztheater, Mariano Pensotti und Cibelle

Hamburg. In einer unübersichtlichen Welt, in der sich letzte Gewissheiten auflösen, bietet die Kunst zumindest noch Raum für Utopien auf Zeit. Der Kunstrasen, den die Hamburger Künstlerin und Bühnenbildnerin Martina Stoian im Außengelände des Kampnagel-Geländes ausgelegt hat, suppt vor Nässe bei jedem Schritt. Und doch, im Innern der Kampnagelfabrik, summt es am frühen Abend wie in einem Bienenstock.

Vergleichbar jenem, den der Imker Daniel Wicklein hinter der Fabrik errichtet hat - als Mahnmal für die bedrohte Natur. "Gemeingüter" heißt der Schwerpunkt des diesjährigen Internationalen Sommerfestivals. Hinter der Fabrik stehen Parkbänke für müde Festivalbesucher, im Foyer blühen Pflanzen und Sträucher.

Grünes Licht für das schützenswerte Gut der internationalen Kunst gibt zum Festivalauftakt Kultursenatorin Barbara Kisseler. Es findet auf dem Gartendeck an der Großen Freiheit statt - den ganzen "Sommer" hindurch können Hamburger Bürger dort Gemüse pflanzen und ernten - ein Garten als Gemeingut, mitten auf St. Pauli. Ein Internationales Festival bedeute, von den Armen (den Künstlern der freien Szene) und den anderen (den Theatermachern aus dem Ausland) zu lernen, mahnt Kisseler. Der Stadttheaterbetrieb produziere zwar meist auf höchstem Niveau, vielfach würden neue theatrale Konzepte aber von außen in das System integriert.

"Es fehlt am Blick über den Tellerrand, denn gerade auf internationalen Festivals entstehen heute viele der spannendsten Produktionen der Avantgarde", sagt Kisseler. "Da setzt die kulturelle Bedeutung des Sommerfestivals an." Diese wird nun auch im Bund wahrgenommen, dessen Fördergelder ein ausgedehntes Programm mit fünf Koproduktionen ermöglicht haben. Zum Auftakt gedeiht auch die Kunst. Den Wechselfällen ihres Lebens sind die vier Figuren in Mariano Pensottis narrativer Performance "El pasado es un animal grotesco" (Die Vergangenheit ist ein groteskes Tier) so unweigerlich ausgeliefert, wie sich das Bühnenkarussell ihres Lebens dreht.

Laura macht sich mit den Ersparnissen ihres Vaters auf Glückssuche in Paris, wo wechselnde Liebhaber, aber wenig Erfüllung auf sie warten. Die Veterinärin Vicky wiederum ist von der geheimen Zweitfamilie ihres Vaters so besessen, dass sie eine fälschliche Kastration vornimmt. Es sind kleine, oft tragikomische Beobachtungen des Alltags, die der argentinische Regisseur Pensotti ins Philosophische, Bedeutungsvolle zieht. Fiktion und historischer Kontext verbinden sich zum Bild einer elegant scheiternden Generation.

Nur ein paar Meter entfernt probieren sich die Teenager des Tanztheaters Wuppertal am Leben - oder daran, was sie jetzt schon davon ahnen. Es gelingt ihnen grandios. Ein bisschen ungelenk sind anfangs ihre Schritte, doch dann werden sie größer, schneller; erhitzte Gesichter, im Guten wie im Schlechten. Was der Tanz mit Menschen macht, man kann es in dem fast dreistündigen Pina-Bausch-Stück "Kontakthof" erleben - und lesen in den Gesichtern der Tänzerinnen und Tänzer. Sie sind wunderschön. Keiner von ihnen hat eine professionelle Ausbildung, das ist das Beste daran. Denn sie stellen sich trotzdem, dem Tanz und der Bühne; und am Ende stehen die Zuschauer. Der Applaus ist lang und herzlich.

Zur Melancholie der Zeit, wie sie derzeit vor allem die Jugend erfasst, setzt zu später Stunde schließlich die Brasilianerin Cibelle mit ihrem virtuosen Mix aus Desert Blues und psychedelischem Tropen-Bossa einen eindrucksvollen Schlusspunkt. Die Songs ihres aktuellen Konzeptalbums "Las Venus Resort Palace Hotel" sind Endzeitoden, die sie als letzte Überlebende nach einem Meteoriteneinschlag in einer verwaisten Strandbar singt. Ihre vierköpfige Band begeistert mit ironischen Arbeiteroutfits, Bart und Zöpfchen und der Bassist darf Cibelle sogar ausgiebig abküssen. Die Show schwankt zwischen totaler Entgrenzung und Depression. Wenn die ganz pur zur Gitarre die Ode vom "Sad Piano" anstimmt, erhöht sich die Weltschmerzkurve derart bedrohlich, dass es höchste Zeit ist für einen neuen Schuss Utopie. Aber es ist ja noch Zeit. Zumindest bis zum 28. August.

Internationales Sommerfestival Hamburg 2011 bis 28.8., Kampnagel, T. 27 09 49 49