“Schoßgebete“, der neue Roman von Charlotte Roche, ist keine Sex-Fibel. Nur ein maßloses Buch. Und an manchen Stellen sogar Literatur.

Hamburg. Das Hirn der Elizabeth Kiehl müssen wir uns als Finsterwald vorstellen. Deprimierende Trampelpfade führen hindurch. Sie haben viele Kurven. Ständig wuselt was um uns herum, blitzt etwas auf. Fiese Fantasien, Fieberträume, Pornos, Bilder, Erinnerungen, Neurosenbäume, Geschichten, die nichts als die Wahrheit sind oder sein sollen, ganz selten Glück. Es herrscht ständiger Überdruck in diesem Wald. In seiner Mitte, da, wo alle deprimierenden Trampelpfade hinführen, ist es ganz besonders finster. In der Mitte des Waldes wartet der Horror, wartet der Tod. Fast 300 Seiten lang, Stunden, sitzen wir fest im Finsterwald der Elizabeth Kiehl, weil Charlotte Roche es so will. Eli-zabeth Kiehl ist, wie Roche, 33, Scheidungskind, Mutter, Stiefmutter, Schwester dreier toter Brüder. Und sie stülpt in "Schoßgebete" ihr Innerstes nach außen wie schon Helen Memel vor drei Jahren in Roches Erstling "Feuchtgebiete" ihr Innerstes nach außen gestülpt hatte.

"Feuchtgebiete" war der nicht minder finstere Wald im Kopf eines 18-jährigen Scheidungskindes mit sehr eigenwilligem Verhältnis zu seinen Körperausscheidungen. Helen Memel, keimverbreitende Hygieneanarchistin und sich selbst verstümmelnde, analfixierte Restromantikerin, dachte Amok in den "Feuchtgebieten", dachte sich das Hirn an den Wänden der Wohlanständigkeit blutig. Träumte den so einfachen wie unmöglichen Traum, ihre Eltern wieder zusammenzubringen, dadurch erlöst zu werden. Das Borderline-Buch einer einsamen, geschädigten Borderline-Seele, ein Buch wie ein Schrei nach Liebe. Ungelenk erzählt, finsterhumorig, krass, am Rand der Pornografie (und darüber hinaus), vor allem aber verzweifelt. Ein Buch, für das die Gesetze der Peinlichkeit nicht galten, das die Gesetze der Schamhaftigkeit nicht kannte. Und das unter anderem auch deswegen ein Weltbestseller wurde (gut zwei Millionen Exemplare, übersetzt in zwei Dutzend Sprachen).

Auch "Schoßgebete" ist das Borderline-Buch einer Borderline-Seele. Auch "Schoßgebete" ist wie ein Schrei. Diesmal allerdings ein Schrei nach Freiheit. Roches Erzählerin, die manche Geschichte erzählt, die wir schon aus "Feuchtgebiete" kennen, ist älter geworden und der Finsterwald in ihrem Kopf komplizierter. Viele Wege gibt es, sich das Hirn darin blutigzudenken. Durch ein ganzes Labyrinth werden wir gejagt bis ins Herz der rocheschen Finsternis. Anstrengend ist das, komplex wie das komplizierte Leben der eigentlich wohlversorgten Elizabeth Kiehl im Stahlgewitter ihres Patchworks. Komplexer, vielschichtiger, vielsprachiger wurde auch die Erzählung.

Drei Tage aus ihrem Leben erzählt Elizabeth Kiehl in "Schoßgebete", das gerade mit der irrwitzigen Startauflage von 500 000 Exemplaren (neuer deutscher Rekord für deutschsprachige Literatur) in die Buchläden ausgeliefert wurde. Drei Tage, in denen eigentlich nichts passiert, und doch ein ganzes verkorkstes Leben. Elizabeth Kiehl hat - 15 Seiten lang - Sex mit Georg, ihrem Mann (bei geschlossenen Fenstern, damit die Nachbarn nichts mitbekommen, und bei 40 Grad unter einer Heizdecke, damit's auch schön kuschelig ist), sie erklärt das anschließende Wirsingkochen (nur Bio-Wirsing, versteht sich) ähnlich penibel, wie sie vorher Tipps und Tricks für den Oralsex verraten hat, sie geht zur Therapie, sie versorgt ihre Tochter, sie geht zur Therapie, sie hat Enddarmwürmer, sie geht mit Georg ins Bordell, sie haben Sex mit einer Hure. Dazwischen mäandert ihr Gedankenfluss herum, macht sich ihr Innerstes in Geschichten frei, macht uns Elizabeth Kiehl zu ihrem Zweittherapeuten.

Den braucht sie auch. Ihr geht's zwar gut, Georg, der Gatte, ist finanziell und körperlich gut ausgestattet. Sie hat aber, sagt sie selbst, zu viel Zeit, über ihre Schäden nachzudenken. Und von denen hat sie viele, wurden ihr zugefügt in ihrem gar nicht langen Leben. Elizabeth Kiehl ist eine hochneurotische Person. Sie hat mehr Ängste als unsereiner Schuhe. Und immer wieder unterwegs durch diesen gar nicht lustigen Finsterwald von Roman poppt eine neue auf. Einen Vater- und einen Großebrüstekomplex hat sie, Mutterhass und Selbsthass und Stiefsohnhass sowieso, Verlustängste allenthalben. Sie will immer alles besser können. Besser blasen, besser ihre Tochter erziehen, besser die Umwelt schützen. Vor allem will sie alles besser machen als ihre Mutter.

Eine ständig sich (und manch-mal uns) überstrapazierende Selbstver-besserin, eine unberechenbare Beziehungsterroristin, depressiv und aggressiv. Sie kann ihr Hirn nicht abschalten. Sie gönnt uns keine Ruhe. Irrt ständig durch die Anfechtungen ihres traumatischen Alltags, durch die Gefängnisse ihres Lebens. Und pinselt ganz allmählich das wahrscheinlich ziemlich zutreffende Porträt einer Frau der postfeministischen Generation hin. Einer seelisch obdachlosen Frau, die festsitzt zwischen allen Rollen. Gern wäre sie spontan, gern mit sich identisch, gern authentisch. Aber sie kann nicht aufhören, sich mit den Bildern in ihrem Kopf, in den Medien zu vergleichen, ständig fallen ihr neue Referenzobjekte ein, auf die sie sich beruft, an denen sie sich misst oder meint, gemessen zu werden.

Nur im Sex ist sie frei, hört sie nicht mehr in sich, ist sie bei sich. Manchmal. Wenn sie sich überwunden hat. Das kann aber dauern. Denn auch im Bett ist sie immer auf der Lauer, setzt sich unter Planerfüllungsspannung. Ist verklemmt, gefangen in einer nur vermeintlich sexuell befreiten, übersexualisierten Welt.

Eingeklemmt zwischen Frauen-bewegungserbe und Lustempfinden, zwischen dem erotischen Bedienen des ziemlich potenten Gatten und der Sehnsucht nach eigener erotischer Freiheit. Und immer wieder sitzen Alice Schwarzer und die frauenbewegte Trauma-Mutter, die "Verlasserin schlechthin", mit am Bett. Und dann denkt Elizabeth: "Mein Frauenbewegungshirn redet mir, mit dem Schwanz meines Mannes im Po ständig aus, dass das geil sein kann, und währenddessen redet mein Enddarmausgang mir ein, dass das sehr wohl sein kann." Frausein kann, das lernt jeder Besitzer eines schwarzerschen Machtschwanzes aus den "Schoßgebeten", ganz schön furchtbar sein in diesen Zeiten.

Vor allem, wenn das Leben ohnehin einem Scherbenhaufen gleicht. Wie das der Elizabeth Kiehl, das in dem Fall ganz besonders eng geführt ist mit dem Leben der Charlotte Roche. Damit nähern wir uns dem Horror im Zentrum des Finsterwaldes, der diesmal nichts mit dem Trauma der elterlichen Trennung zu tun hat, nichts mit Rollen und Bildern, sondern mit einem entsetzlichen Unfall.

Ganz allmählich, sehr konzentriert schreibt sich Charlotte Roche an den Glutkern der Verzweiflung heran, an das Ereignis, das in Andeutungen, in Nebenbeigeschichten, im Gespräch mit ihrer Therapeutin immer wieder erwähnt wird und das die prekäre Balance ihres Lebens, ihrer Seele zerstört hat. Ganz nüchtern erzählt sie dann, als die Geschichte hervorbricht, sich selbst erzählt, was geschah. Wie sie heiraten wollte in England, Elizabeth im Flugzeug saß und ihre Mutter und die drei Brüder mit dem Auto und dem Hochzeitskleid auf dem Dach hinterherfuhren - weil es zu groß für einen Koffer war. Wie das Auto in Belgien in eine Massenkarambolage geriet, wie die drei Brüder spurlos verbrannten.

Wie die Hochzeit ausfiel, weil Braut und Bräutigam, nicht zusammen-, sondern auseinanderhielten, die Katastrophe war zu groß. Wie dann gleich eine Boulevardzeitung anrief und ein Statement haben wollte, wie die "Druck-Zeitung" das Bild vom ausgebrannten Wagen druckte, das sie nie hatte sehen wollen. Wie sie sich vergewaltigt fühlte von den Drückern der "Druck". Wie die Zeitung, die Medien, die "Blutgafferpornografen" ihre Trauer zerstörten. Wie sie einen mörderischen Hass bekam auf die Zeitung und jene, die Geld verdienen mit dem Elend der anderen.

Elizabeth Kiehl ist eine maßlose Figur. Und "Schoßgebete" ein maßloses Buch. Keine Sex-Fibel (wer Stellen sucht, findet sie, muss aber verhältnismäßig lange suchen), eine Befreiungsgeschichte, fast ein Entwicklungsroman. Vor allem aber der massive Versuch, endgültig die Herrschaft über die eigene Geschichte (zurück) zu gewinnen, mit einem stilistisch verhältnismäßig vielgestaltigen Wechselbalg aus Kolumne und Sexratgeber, Therapiemonolog und Horrorbericht. Flapsig im Ton, um Alltäglichkeit bemüht und manchmal peinlich - genau kalkuliert, sauber geschnitten. Und manchmal, gar nicht selten, ist "Schoßgebete" sogar Literatur. Was aber auch egal ist. Es tut weh, es macht wütend, es widerborstet sich auch so ins Hirn, dieses Buch. Und da bleibt es verblüffend lang.

Charlotte Roche: "Schoßgebete". Piper, München, 288 S., 16,99 Euro