Hamburg eins, Salzburg null, oder: Warum der “Jedermann“ im Norden deutlich besser aufgehoben ist. Ein Vergleich der Spielorte.

Salzburg. In Salzburg gehört der "Jedermann", die Fabel vom Sterben des reichen Mannes, seit 1920 zum Festspielrepertoire. Bei uns im Norden gibt es seit 18 Jahren den "Hamburger Jedermann". Den einen schrieb Hugo von Hofmannsthal, der dem vielfach bearbeiteten uralten Motiv eine volkstümlich gereimte Fassung gab. Er fand in Max Reinhardt seinen ersten Regisseur und im Fürsterzbischof von Salzburg den verständnisvollen Mann, der dem frömmelnden Spiel nicht ganz uneigennützig den einmaligen Platz vor dem Domportal zur Verfügung stellte. Eine zauberhafte Kulisse, die Bühne, die mit der Domfassade verwoben scheint, vor allem, wenn die Kirchenglocken dramaturgisch punktgenau geläutet werden und die "Jedermann"-Rufe von den umliegenden Dächern durch Mark und Bein gehen.

Den "Hamburger Jedermann" schrieb Michael Batz. Er passte die zeitlose Geschichte den unchristlich gewordenen Zeiten an, vor allem aber schreibt er jedes Jahr neue Anspielungen auf das aktuelle Geschehen in Stadt und Welt hinein, sodass sie mit immer neuen Nuancen aufwarten kann. Und er fand bei HHLA und HafenCity die Leute, die ihm nicht ganz uneigennützig den einmaligen Spielort zwischen Fleet und Kesselhaus und den historisierenden Backsteinfassaden der Speicherstadt überlassen, dort, wo früher das Kraftwerk dieses Handelszentrums stand. Die Sprache kann dort nicht verwehen, Brücke, Fleet, die Türen hoch oben auf den Speicherböden spielen ebenso mit wie die dezente Fassaden-Illumination - ein ganz besonderer Zauber, der nur hin und wieder mal vom Tuckern eines Schiffsmotors aufgelockert wird.

Schade, dass die Salzburger etwas wasserscheuer sind als die Hamburger: Während im Norden auch bei leichtem Nieselregen gespielt wird, ziehen die 2000 Salzburger Zuschauer einfach schon vor Beginn in das Große Festspielhaus um. Sie sitzen im Trockenen, aber die einmalige Atmosphäre unter freiem Himmel ist damit auch perdu.

Oberammergau-Regisseur Christian Stückl (in Hamburgs Oper bei Pfitzners "Palestrina" tätig) hat das Hofmannsthal-Stück gleich zweimal, 2002 und 2007, geliftet und damit experimentiert. Den Beginn macht bei ihm eine quirlige Kindertheater-Truppe, die fast unmerklich zum Ernst des Lebens überleitet. Stückl arbeitet sich redlich daran ab, zu überlegen, welche Funktion Gott noch haben könnte in dieser Welt. Er lässt ihn erstmals in der Salzburger "Jedermann"-Geschichte in persona auftreten, reduziert ihn aber auf einen alten Mann, der gerade mal noch dem Tod befehlen und eine märchenhafte Erlösung bewirken kann.

Doch an die glaubt nicht mal der Jedermann selbst, der nach einem wüsten Leben sich im Angesicht des Todes widerstrebend und sichtbar ungläubig in Worten bekehrt. Überhaupt macht Christian Stückl das Stück über weite Strecken zum Kasperltheater für Erwachsene - optisch zwar brillant, mit opulenten Kostümen und einer wunderbaren Bühnenmusik (Ars Antiqua Austria), mit absurd überzeichneten Figuren bei der Dinner-Gesellschaft. Das aber nimmt der Geschichte einen Gutteil der Fallhöhe, die den "Jedermann" sonst so anrührend macht. Die bekommt Michael Batz eindeutig besser hin; seine Geschichte packt, sie knittelt in den Versen geschickt zwischen Volksbühne und Goethe, ist aktueller und erreicht deshalb die Zuschauer direkter. Batz' Gottesmord ist konsequent und öffnet so den Raum für eine fundamentalere Kritik an der Kapitalisten-Funktion des Jedermanns, aber auch für eine illusionslosere und weltlichere Form der Erlösung: die spät aufblühende Liebe der alten Bauern, die ihnen den Weg öffnet, den armen, reichen Mann in seinen Tod zu begleiten.

Volkstheater-Rummel und Klamauk, soziale Analyse, bissige Gags von hohem Wiedererkennungswert und das Verhandeln wirklich letzter Dinge wechseln rasch ab - die Angst vor dem Tod wird umso heftiger spürbar. Bis zum Schluss, wo der abermals geprellte Teufel hilflos und allein das Kinderlied "Weißt du, wie viel Sternlein stehen" anstimmt und dessen letztes Wort plötzlich als verzweifelte Aufforderung herausbrüllt: "Zahl!"

In Salzburg spielte in dem Stück seit dem Beginn wirklich alles, was auf deutschen Bühnen Rang und Namen hatte. In Hamburg geht es von den Namen her ein, zwei Nummern kleiner zu, aber keine Spur weniger überzeugend.

Vor der Domfassade treten in diesem Jahr auf: Nicholas Ofzarek als charmant herzloser Party-"Jedermann", Birgit Minichmayr als Buhlschaft, doch sie bleibt eher blass und dekorativ, was sie auch das Festspiel-Publikum im Applaus spüren lässt. Zu Recht mehr Beifall bekommt Lina Beckmann in der Rolle der Guten Werke. Ben Becker ist ein dröhniger Tod, der sehr erdig über die Bühne stapft - aber keiner, der den Betrachter unwillkürlich erschauern lässt. Der Teufel wird eins mit dem guten Gesell - sehr geschmeidig und kratzfüßig gespielt von Peter Jordan, der erst am Ende in seiner pechschwarzen, lang geschwänzten Volkstheater-Gestalt mit blutroten Augen herumkaspern darf. Gott (Martin Reinke) schlurft als ein uralter Jude durch das Spiel, eine Randfigur, ein armer Penner, der am Ende seine Existenz einzig dadurch rechtfertigt, dass er Jedermann allen Höllendrohungen zum Trotz erlöst.

Den Hamburger Jedermann, einen Investor, dem schneidende Kälte aus jeder Pore dringt, spielt Robin Brosch. Anika Lehmann ist seine glutvolle, lebenslustige Geliebte, solange sie von ihm profitiert. Den Hamburger Tod, majestätisch schwarz gewandet, mit wunderbar geschminktem Totenschädel, gibt Wolfgang Hartmann. Der fauchende und zischende Teufel (Erik Schäffler) ist eine arme, aber amüsante Sau, den ein Fleetenkieker aus dem Wasser zieht und der eine ihm einst versprochene Seele eintreiben will. Sein himmlischer Gegenspieler ist tot, was dem Satan die Arbeit nicht wirklich erleichtert.

In Salzburg gehört ein "Jedermann" zum guten Ton. Man bekommt mit einer Eintrittskarte gleich zwei Vorstellungen - der Aufmarsch des Publikums ist nicht weniger unterhaltsam als das Geschehen auf der Bühne. Die hochkarätige Festspielgemeinde weiß, wenn der Tod dem Jedermann die finale Hand aufs Herz schlägt: Gleich ist's geschafft, und schaltet, ob im Dirndl oder im Abendkleid, Sekunden nach dem letzten Wort blitzartig das Smartphone ein. Man könnte ja in der Zwischenzeit etwas verpasst haben. Die Überlebenden gehen dann hinüber in die Blaue Gans oder den Goldenen Hirsch und lassen sich's schmecken. Das Hamburger Publikum kommt deutlich touristischer daher und regenfest - sicher ist sicher. Picknick wird mitgebracht, und man geht während des Stücks mit, als säße man im Ohnsorg-Theater. Für den Absacker nach Jedermanns Tod lockt das Bier im Zelt-"Café Jedermann".

Fazit: Der Salzburger "Jedermann" punktet mit Tradition, Ausstattung und bekannten Schauspielern, der Hamburger hat allerdings die Nase vorn - durch Aktualität, Flair und eine Geschichte, die deutlich mehr anrührt und packender erzählt wird.

Karten für den "Jedermann" in Salzburg kosten 25 bis 155 Euro in Salzburg (sehr früh vorbestellen für den Sommer 2012; schriftliche Bestellungen bis Anfang Januar unter Fax +43-662-80 45-555 oder Kartenbüro der Salzburger Festspiele, Postfach 140 5010 Salzburg, Österreich).

Karten für den "Hamburger Jedermann" von 18 bis 49 Euro gibt es unter T. 369 62 37. Vorstellungen noch bis zum 21. August, dann wieder vom 6. Juli bis zum 19. August 2012, Theater in der Speicherstadt, Auf dem Sande 1.