Serie Kultur erfahren (5): “Archiv Utopia“ in der Kunsthalle Kiel zeigt extrem lang belichtete Fotos von der brasilianischen Metropole Brasilia

Kunsthalle Kiel. Ein Platz, menschenleer. Quaderförmige Gebäude reihen sich zu beiden Seiten aneinander, dazwischen breite Rasenflächen. Ein blassblauer Himmel ergießt sich über dieses Stadtpanorama. Ein gleißend heller ovaler Strahl schlägt im Hintergrund ein. Die Leere hat etwas Unwirkliches, der Blitz wirkt bedrohlich. "Eixo Monumental" heißt das Bild von Michael Wesely, und es zeigt die zentrale Ost-West-Achse in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Der dominierende Lichtstrahl ist ein natürliches Phänomen, es ist der Lauf der Sonne, sichtbar gemacht durch das Verfahren der Langzeitbelichtung, mit denen Wesely seine Bilder aufnimmt.

"Archiv Utopia" heißt die Ausstellung in der Kieler Kunsthalle mit 25 großformatigen Bildern des 1963 in München geborenen Künstlers. Zwischen 2003 und 2010 sind Wesely und die koreanisch-brasilianische Künstlerin Lina Kim etliche Male nach Brasilia gereist, um den Mythos Brasilia und den realen Ort zu erkunden. Ebenso wichtig wie die mit den Großbildkameras aufgenommenen Fotos ist die Sichtung eines Archivs gewesen, das die Entstehungsgeschichte Brasilias dokumentiert. Das Künstlerpaar hat 100 000 Bilder und Dias im dortigen Stadtarchiv gesichtet, 4000 eingescannt und von diesen 1800 gesäubert, bearbeitet und so vor der Zerstörung bewahrt. 300 dieser kleinformatigen Fotos hängen auf der Galerie der Kunsthalle und zeigen die verschiedenen Bauphasen dieser am Reißbrett konzipierten Stadt.

Brasilia wurde zwischen 1956 und 1960 mit dem Ziel gebaut, eine ideale Stadt entstehen zu lassen. Die früheren brasilianischen Präsidenten Vargas und Kubitschek trieben das Projekt mit Hochdruck voran. Der verantwortliche Stadtplaner Lúcio Costa wählte als Grundriss ein Kreuz, das Brasilia in Viertel teilt. Für viele der futuristischen Bauten war der Architekt Oscar Niemeyer verantwortlich.

Doch nachdem das Prestigeprojekt mit großem Brimborium eingeweiht wurde, wollten viele der Staatsbeamten nicht in die Einöde der 900 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt gelegenen neuen Hauptstadt umziehen. Nur unter Androhung von Repressalien bezogen Diplomaten und Beamte ihre Wohnungen dort. Heute leben etwa 250 000 Menschen in der Stadt, aber 2,5 Millionen in den umgebenden Satellitenstädten mit ihren unzähligen einfachen Hütten. Viele Brasilianer wünschen sich bis heute, dass ihre neue Hauptstadt nie gebaut worden wäre.

Michael Weselys Fotos verdeutlichen, indem sie die leeren Straßenzüge zeigen, diesen gescheiterten Menschheitstraum. Kein Auto steht auf dem Parkplatz des Freilichtkinos. Die Straßen, Parkanlagen und eine Tankstelle sind so ausgestorben wie in einer Geisterstadt. Die Foyers der Glaspaläste sind zwar von klinischer Sauberkeit, doch es findet sich darin keine Spur menschlichen Lebens. Lediglich auf den Stuhlreihen am Flughafen sind schemenhaft zwei Gestalten auszumachen, in nebligem Weiß und so flüchtig, als könne sie der nächste Windhauch gänzlich auflösen. Zwar fehlt es in Brasilia in der Tat an öffentlichen Treffpunkten, doch die Leere hat Wesely durch das fotografische Verfahren erreicht, das er verwendet.

Bei Langzeitbelichtung werden sich schnell bewegende Elemente wie ein fahrendes Auto oder ein durch die Kamera laufender Mensch nicht sichtbar. Auch Schatten werden nicht sichtbar. Abgebildet werden jedoch zeitliche Prozesse wie der eingangs erwähnte Sonnenlauf. Jeweils von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends haben Wesely und Kim ihre Großformatkameras aufgestellt. Blickwinkel, Standort und Belichtungszeit wurden von den Fotografen gewählt, auf das Resultat am Ende der zwölfstündigen Belichtungsdauer hatten sie keinen Einfluss mehr. Wesely hat bei anderen Arbeiten noch mit wesentlich längeren Belichtungszeiten gearbeitet. In der gerade zu Ende gegangenen Ausstellung "Unscharf" in der Hamburger Kunsthalle war von ihm ein Stillleben zu sehen, in dem das Verblühen eines Tulpenstraußes in einer Vase mit diesem Verfahren gezeigt wird.

Weselys Brasilia-Bilder wirken verwirrend und futuristisch gleichermaßen. Genau wie diese nur schwer fassbare Stadt. Seit 1987 zählt Brasilia zum Weltkulturerbe der Unesco. Weil kein Architekt jemals wieder so eine abstrakte Stadt errichten wird.

Archiv Utopia: bis 28.8., Di-So 10.00-18.00, Mi 10.00-20.00, Kiel, Düsternbrooker Weg 1, Eintritt 7,-/4,-; Internet: www.kunsthalle-kiel.de

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