Der Attentäter von Norwegen, Anders Behring Breivik, und sein Manifest - über die Suche nach dem richtigen Umgang mit dem Bösen.

Hamburg. Am Hafen, in der Ditmar-Koel-Straße, steht die Norwegische Seemannskirche. Seit vergangenem Wochenende liegen vor ihrer Tür Blumen. Teelichter stehen hier, sie sind in der Form eines Herzens angeordnet. Opfergedenken. Man hat Bilder im Kopf, wenn man an dem Gotteshaus vorbeiläuft, und auch sonst, wenn die Geschehnisse in Oslo und auf Utøya Gegenstand von Überlegungen sind.

Das Problem ist: Die Bilder zeigen fast alle Anders Behring Breivik. Boulevardmedien geben ihm Namen wie "Teufels-Killer" oder "blonder Teufel". Dem Attentäter, der 76 Menschen ermordet hat, gefällt das wahrscheinlich nicht, aber er hat ja vorgesorgt; in seinem Manifest, das er kurz vor seinem Blutrausch ins Netz stellte, sucht er sich und seine Tat zu erklären. Auf mehr als 1500 Seiten. Und er sagt, dass er mit der Etikettierung als "Monster" rechnet. Und dass er das in Kauf nimmt. "2083 - Eine europäische Unabhängigkeitserklärung" heißt sein krudes Machwerk, es ist ein pseudowissenschaftliches und geschichtsphilosophisches Transportmittel seines Hasses, der vordergründig auf den Islam und mehr noch auf die multikulturelle Gesellschaft zielt. Es ist ein Angriff in Worten, der den Schüssen aus seiner Waffe einen Nachhall geben soll. Der fundamentalistisch-christliche Tempelritter, als der der Massenmörder sich gerierte, nimmt in dem "Manifest" Gestalt an.

Eine Woche ist das Massaker jetzt her - eine Woche, in der nicht nur getrauert, verarbeitet, kritisiert, sondern auch der wahnsinnige Ungeist des Attentäters untersucht wurde. Breiviks Vorgehen wurde als die Parallelaktion begriffen, die sie war: ein kaltblütiger Massenmord als Promotion für die zutiefst gestörte Weltsicht eines Einzelgängers, dargelegt in einem Riesentext. Genau das ist das moralische Dilemma, in das jeder Kommentator gerät, der die Schrift einer Prüfung unterzieht, die durch das Internet nun mal in der Welt ist. Darf man dem Mann diese Publicity verschaffen? Seiner perfiden Strategie auf den Leim gehen? Die Macht der Bilder ist groß, das ist ein Topos. Im Falle des nun in vielfachen Aufnahmen in unseren Datenkanälen auftauchenden Attentäters ist auch das Bild gespeichert, das ihn beim Gefangenentransport zeigt: Wir sehen das seltsam entrückte Gesicht eines Zufriedenen.

Neuneinhalb Millionen Seiten findet die Internetsuchmaschine Google, wenn man den Namen des größenwahnsinnigen Attentäters eingibt.

Damit wird vor allem sein Narzissmus befriedigt (wie auch durch diesen Artikel). Es gab die gesamte Woche über Forderungen, genau dem vorzubeugen und seine Gedanken nicht weiter zu verbreiten. Laut eigenem Bekunden hatte er ja zum Beispiel mit seinem protokollierenden Tagebuch potenziellen Nachahmern eine Handlungsanleitung geben wollen, was sie tun und was sie nicht tun sollten im terroristischen Kampf gegen "Kulturmarxisten" etc. pp.; natürlich verbietet sich eine Beförderung seiner verbrecherischen Formulierungen so gesehen. Ohne die Tat, ohne das Massaker gleichen viele seiner Formulierungen jedoch den radikalen Ansichten vieler Rechtsblogger, die seit vielen Jahren im Netz ihr Unwesen treiben, um eine (virtuelle) Armee für ihren Glaubenskrieg zu rekrutieren.

Von einem unter dem Namen "Fjordman" schreibenden "Denkers" hat sich Breivik nachweislich inspirieren lassen, durch ihn kam er auch auf den deutschen Islamkritiker Henryk M. Broder, der sich zu Recht jetzt als Stichwortgeber verunglimpft sieht. Es gibt aber Unterschiede der Kritik, und jede Interpretation funktioniert nur, wenn sie den Kontext reflektiert. Broder ist nicht Breivik, nur weil er im Konstrukt zitiert wird. Der aufgeklärte Bürger mit seinem gut ausgebildeten Wahrnehmungsapparat will die unfassbare Tat nach den Maßstäben handhaben, die er sonst an Geschehnisse anlegt.

Wir wollen nämlich verstehen - und das ist der Grund, weshalb es nichts bringt, Breivik und seine Thesen unter Verschluss zu halten. Man kann das Böse nicht ignorieren. Es ist wahr, dass die Geschichte die Namen der Opfer vergisst, nicht aber denjenigen des Täters. Aber es ist auch wahr, dass Massaker wie das norwegische, so schrecklich sie sein mögen, lediglich Episoden sind. Und es spräche der selbstbewussten Vernunft des Bürgers Hohn, traute man ihr nicht zu, über den Text Breiviks zu urteilen. Die Propaganda-Falle schnappt nicht zwangsläufig zu, nur weil die Textinterpreten ein blutiges Manifest mehr oder minder ausführlich paraphrasieren. Wer heute einen auf Kreuzritter macht, entlarvt sich selbst; ganz zu schweigen von den banalen Alltagsbeschreibungen.

Auf 1500 Seiten muss ja irgendwas stehen, und sei es die zusammengeschusterte Ideologie eines Mannes, der selbstverständlich eher ein Fall für den Psychoanalytiker ist als für den gesellschaftspolitischen Diskurs.